Der Klang der Zeit
Einsätzen, machte meine Hand zur Pleuelstange, die die Noten anschlug wie eine Maschine. Ich verminderte die Anspannung und spielte einen Akkord wie ein perlendes Arpeggio. Beim nächsten Mal drückte ich die Tasten so behutsam herunter, dass nichts zu hören war und die Töne erst erklangen, wenn ich sie wieder losließ. Danach konzentrierte ich mich auf den Bass, dann wieder auf meine Hände, wie sie die verborgenen inneren Harmonien aus dem Gewirr heraustreten ließen wie ein Zauberlehrling.
Worauf es ankam, war Kraft und Kontrolle. Tempo und Spannweite. Ich musste die Intervalle aufbrechen und erweitern, das Zentrum des Körpers von den Fingern hinauf in den Arm verlagern, den Arm strecken wie ein Falke im Flug. Ich spielte die Noten rubato oder verschmolz sie zu einem fließenden Legato. Ich ließ die Phrase sanft ausklingen oder brachte sie zu einem jähen Abschluss, oder ich trat das Pedal und ließ die Töne laut erschallen. Ich verwandelte den Stutzflügel in ein Cembalo mit zwei Manualen. Spielen, Stopp, anheben, zurück, wiederholen, Stopp, anheben, eine Zeile zurück, eine Phrase zurück, zwei Takte zurück, einen halben, den Doppelschlag, die Überleitung, die Note, eine winzig kleine Nuance beim Einsatz. Mein Gehirn verlor sich in einem Zustand vollkommener Leere, gepaart mit höchster Erregung. Ich war wie eine Pflanze, die dem Sonnenlicht Blüten abringt, wie Wellen, die an den Küsten eines Kontinents nagen.
Ich spielte stundenlang und bewegte mein Rückgrat dabei nicht eine Handbreit. Dann stand ich auf, lief in meinem Übungsraum im Kreis wie ein Wolf in seinem Zoogehege, ging den Flur entlang, hielt den Kopf unter den Wasserstrahl des Trinkbrunnens. Die Korridore waren erfüllt von einem wunderbaren Lärm. Rings um mich her vermischten sich abgerissene Fetzen von Melodien wie zu einer Symphonie von Ives. Ein paar Takte Chopin prallten auf Bruchstücke von Bachschen Inven-tionen. Ein Ostinato von Strawinsky verband sich mit Schnipseln Scarlatti. Mühsame Schwerarbeit ließ hie und da eine Musik entstehen, die phantastischer war als alles, was ich je in einem Konzertsaal gehört hatte, Fragmente, so wunderschön, dass es mich in tiefe Verzweiflung stürzte, wenn sie mittendrin plötzlich abbrachen. Die Gänge dieses klösterlichen Clubhauses hallten wider von einer überdimensionalen Neuauflage des alten Spiels, das meine Eltern einst gespielt hatten: Kirchenlieder schmiegten sich an Jahrmarktsklänge; hoch romantische Liebesschwüre rangelten mit strengen Fugen; Begräbnisse, Hochzeiten, Taufen; Schluchzen, Flüstern, Rufen: Bei dieser Party redeten alle durcheinander, und kein Ohr konnte den Knoten entwirren.
Dann kehrte ich für weitere zwei Stunden zurück in meinen Käfig und widmete mich wieder dem Zerlegen und Zusammenfügen. Mein Körper drohte zu versagen, mein Gehirn wäre am liebsten für immer ins Koma verfallen. Die Monotonie war nervtötend, betäubend, zermürbend, bedrückend, anregend, berauschend, verzehrend, vollkommen. Es war ein Gefühl wie Liebe, wie ein läuterndes Feuer. Ich war ein Kind am Strand, das mit einem Sieb den unendlichen Sanddünen zu Leibe rückt. Durch schiere Willenskraft, durch die bloße hämmernde Wiederholung, konnte ich alle Unreinheiten der Welt verbrennen, alles Hässliche, alle Äußerlichkeiten, bis nichts mehr blieb als geschliffener, schwereloser Glanz. Mit mikroskopisch kleinen Schritten näherte ich mich an etwas an, das ich nicht sehen konnte, etwas Klares und Unveränderliches, reine Form und reineres Vergnügen, eine erlösende Erinnerung, Musik, einen kurzer Blick auf ein künftiges Ich.
Doch selbst diese konzentrierte Flamme konnte nicht den jugendlichen Körper wegbrennen, der das Feuer nährte. Ich saß und rollte den Stein eine halbe Stunde lang bergauf, ehe ich einsah, dass der Stein mich niederwalzte. Wenn jede Taste sich anfühlte wie Morast, suchte ich Ablenkung – bei Jonah, häufiger noch bei Wilson Hart.
Wenn er mit seinen Gedanken nicht im staubigen Spanien war, verbrachte auch Will seine Tage in einem Übungsraum. Aber er übte nie so viel, wie er sollte. Er hatte einen herrlichen, kraftvollen Bass, der die Resonanzräume in Brust und Kopf sprengte. Doch auf den Tonleitern kam er öfters ins Straucheln. Auch ohne große Anstrengung hätte er mit seiner Stimme jederzeit eine Anstellung als Lehrer an einem College wie dem, das er wegen Juilliard verlassen hatte, sicher gehabt. Im besten Fall hätte er alle Bühnen diesseits
Weitere Kostenlose Bücher