Der Klang der Zeit
Spektrums. »Na, ist das nicht die tollste Frau, die du je gesehen hast?« Ich brachte immer ein eifriges Nicken zustande.
Sein Körper war ein Seismograph. Selbst wenn er nur im Zuschauerraum eines Konzertsaals saß, war es eine sportliche Übung. Altistinnen hatten es ihm besonders angetan. Wann immer eine im Umkreis von dreißig Metern auftauchte, reckte er den Hals wie das Periskop eines U-Boots. Zum ersten Mal in seinem Leben war Singen ein Mittel zum Zweck. Er sang wie ein Windhund, der sich von der Leine losgerissen hat, hetzte durch Morningside und hob sein Bein an jedem Hydranten, der lange genug still hielt.
Ich hasste ihn dafür, dass er Kimberly verriet, und wusste doch, dass dieser Hass absurd war. Da stand ich, allein in meinem ganz privaten Sturm der Hormone, und legte Hand an mich beim Gedanken an alles was Beine hatte. Aber ich wollte, dass mein Bruder die Erinnerung an die Vergangenheit bewahrte, und dazu gehörte auch unser weißes Gespenst. Hier in New York schien uns der pseudoitalienische Innenhof von Boylston nur noch billiges Operettendekor. Ich hatte meine jungen Jahre verbracht wie die poliokranken Kinder, die man in Illustrierten sah, gefangen in einer eisernen Lunge, künstlich am Leben gehalten. All das war mit dem undichten Heizkessel explodiert. Ich brauchte etwas aus unserer verschwundenen Vergangenheit, an das ich mich halten konnte, und wenn es nur ein anämischer Geist war.
Jonah flirtete mit sämtlichen Gesangstudentinnen in Juilliard. Und sie flirteten ausnahmslos zurück, denn sie fühlten sich sicher angesichts der Abwegigkeit seines Verlangens. Seine Stimme verdrehte selbst die blon-desten Köpfe. Es war Ende der fünfziger Jahre, und für eine zwanzig-jährige Studentin dieser Eliteschule war er der Inbegriff des Verbotenen, zumal von ihm keinerlei Gefahr drohte. Undenkbar.
Ich fand für jede seiner neuen farblosen Göttinnen ein paar freundliche Worte, brachte für sie die gleiche Begeisterung auf wie für seinen Gesang, selbst wenn sein Repertoire mir immer fremder wurde. Der einfache Weg von der Tonika zur Dominante und zurück war Jonah mittlerweile zu langweilig. Nur noch, wenn die Musik Ecken und Kanten hatte, versprach sie ihm eine echte Herausforderung. Übermäßige Quarten und die anderen Intervalle des Teufels, abenteuerlich neue No-tenschriften, Polyrhythmik, Mikrotöne; im Grunde war es nichts als der Wunsch, sich weiterzuentwickeln, aber das ist ein Wunsch, für den die Welt selten Verständnis aufbringt.
Jonah verkehrte immer mehr in einer avantgardistischen Gruppe, die von den konventionelleren Gesangstudenten den Spitznamen »Serial Killers« erhielt, nach der von ihnen so sehr verehrten seriellen Musik. Die Killers trugen ihren Namen mit Stolz; sie verneigten sich vor dem Altar des adoptierten Schutzheiligen aller Unerbittlichen, Schönberg, heilig gesprochen in dem Augenblick, in dem er einige Jahre zuvor ausgerechnet in Los Angeles gestorben war. Sie erklärten alles außerhalb der Zwölftonreihe für bloßen Zierrat, und das war weit schlimmer als schön.
Lange träumten die Serienmörder davon, zur ersten vollständigen Aufführung von Moses und Aron nach Zürich zu reisen. Als diese Seifenblase zerplatzte, schworen sie sich, die Oper selbst für eine konzertante Aufführung einzustudieren. Jonah war Aaron, das redegewandte Sprachrohr seines sprachgestörten Bruders. Er war noch keine zwanzig; trotzdem bekam er im Handumdrehen die schwierigste Musik in den Griff. Er meisterte die komplexen neuen Tonsysteme mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er als Kind die schlichten diatonischen Freuden erlernt hatte. Bei ihm klang die Atonalität so unbeschwert wie Offenbach.
Jonah lockte für die Aufführung sogar Pa aus seiner Wohnung. »Moses und Aron? Geschichten von den Erzvätern? Da erziehe ich meine Kinder zu guten, gottesfürchtigen Atheisten, und das ist der Dank?« Aber die Aufführung gefiel ihm sehr. Den ganzen Abend über nickte er beifällig zur Neufassung einer Geschichte, die er uns nie erzählt hatte. Er strahlte über die geradezu überirdische Sicherheit, mit der sein Sohn inmitten einer Kakophonie von Zeichen und Wundern den Ton hielt.
Ich habe Schönberg nie verstanden. Ich meine nicht nur das unvollendete Opernlibretto über das unlösbare Rätsel des göttlichen Willens. Ich meine die Musik. Ich konnte sie nicht fühlen. Pa erging es kaum besser. Er hänselte Jonah auf dem gesamten Heimweg. »Weißt du, was Strawinsky gesagt hat, als
Weitere Kostenlose Bücher