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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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aus dem Süden darüber hinweggeschwappt, und was geblieben war, war in der Großstadt kühl und weltläufig geworden. Die alten Stammgäste erzählten uns, dass wir das Beste schon verpasst hätten. Die wahren Götter wandelten nicht mehr auf Erden, und was i960 zu hören war, sei nichts als ein Echo. Aber für Jonah und mich war es die Luft eines Planeten, der jünger war als Schönberg, eine Atmosphäre, die sich weit besser atmen ließ.
    Damals hörte ich noch nicht, wie weit in die Vergangenheit dieser Klang der Zukunft reichte. Einst hatte er unser Haus erfüllt, war am Sonntagmorgen aus dem Radio gekommen. Wann immer wir eins von Pas kunstvoll-experimentellen Omelettes gegessen hatten, war es zu Jazzmusik gewesen. Der Klang hatte nie wirklich zu uns gehört, nicht so wie die Sachen, die wir jeden zweiten Tag sangen. Nie unser Zuhause; eher ein windschiefes Ferienquartier, das man im Sommer für zwei Wochen am Strand mietete. Unsere Eltern hatten sich den Jazz angehört. Nur Jonah und ich waren abtrünnig geworden. Unsere Besuche im Village sahen wir nicht als Rückkehr – wir waren überzeugt, dass wir an einen Ort geraten waren, an dem wir noch nie gewesen waren.
    Pa wollte nicht, dass wir die ganze Nacht unterwegs waren. Er hatte den Anschluss an uns verloren, war ganz in seine Arbeit versunken, und nur ab und zu tauchte er auf, schnappte Luft und versuchte, seinen Kindern ein Vater zu sein. Er blieb lange genug oben, dass er uns einschärfen konnte, bis Mitternacht hätten wir zu Hause zu sein – zu früh, um die Sachen zu hören, von denen die Kenner in ehrfürchtigen Tönen redeten. Diese Leute kamen immer erst am frühen Morgen auf die Bühne. Die Musiker, die zählten, spielten noch – berauscht von Stoffen, von denen wir nicht einmal die Namen kannten –, wenn Jonah und ich uns schon zum nächsten Tag am Konservatorium schleppten. Wir hätten uns über Pas Sperrstunde hinwegsetzen können, ohne dass er es bemerkt hätte. Aber wir hielten uns immer daran, blieben bis zur letzten mög-lichen Minute. Jonah trank ein Bier oder zwei und bediente sich dazu von meinem Sodawasser. Wenn wir dann schließlich in Richtung Nor-den zogen, torkelten wir wie Betrunkene, Jonah bleich von dem Dunkel, dem Rauch, dem Staunen, so blass wie ein Semit, der sich in diese schwarzen Straßen verirrt hatte. Und stets versuchte er beklommenen zu erklären, was er da gehört hatte.
    »Die besten Sachen stehlen sie von der Avantgarde der Dreißiger. Paris, Berlin.« Die Vorstellung beruhigte ihn. Aber nach allem, was ich gelesen hatte, hatten die Europäer ihre besten Sachen in New Orleans und Chicago gestohlen. Der Vampir der Musik geisterte durch die Jahrhunderte und war nicht im Mindesten wählerisch, wessen Adern er aussaugte. Alles, was Blut in sich hatte, war diesem Untoten recht, jede Transfusion, die ihn ein weiteres Jahr auf den Beinen hielt.
    Ich fand es wunderbar, wie die Jazzer mit ihren Instrumentenkoffern durch die Straßen zogen, wie sie nach der nächsten Ecke Ausschau hielten, an der sie ihre Trompeten und Saxophone auspacken und ein paar Minuten spielen konnten, immer auf der Suche nach Gleichgesinnten, nichts anderes im Sinn als Musik. Ihr Antrieb war die reine Lebensfreude, die Freude am Vorankommen. Es gab keinen tieferen Sinn für ihre Töne, keinen Anfang, kein Ende, kein Ziel außerhalb der Musik, und selbst an denen, die sie ansahen, sahen sie im Grunde vorbei. Sie wollten spielen, alles andere zählte nicht.
    Einmal hörten wir Coltrane. Er spielte in einem Raum, der kaum mehr war als ein Wohnzimmer, in einer Straße wie aus der Spielzeugkiste, auf einer Bühne so groß wie ein Käsesandwich. Er hatte in der Gasse nebenan gestanden, an seinen Saxophonkoffer gelehnt, als der Drummer und der Klavierspieler des Abends sich eine Zigarette genehmigten. Sie drängten 'Trane oder er hatte gerade nichts anderes vor – da gab es widersprüchliche Gerüchte –, und so saßen Jonah und ich mit den Ohren in dem großen aufwärts gebogenen Schalltrichter, hörten die Klappen auf den Tonlöchern und ließen uns eine Runde Zitateraten vorspielen, die unsere Fähigkeiten bei weitem überstieg.
    Bei all meiner Ausbildung in Tonsatz und Harmonielehre konnte ich nicht einmal ein Drittel von dem begreifen, was das Zufallsquartett an jenem Abend spielte. Aber das war Musik, wie sie früher gewesen war, als meine Eltern mir zum ersten Mal Musik gezeigt hatten. Musik, die nur für sich da war. Music for a while.
    Ich

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