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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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beobachtete Jonah gern, wenn die großen Sänger des Village auf die Bühne kamen. Besonders eine hatte es ihm angetan, eine Frau aus den Südstaaten namens Simone, die ihre Karriere in Juilliard, als Klavierschülerin von Carl Friedburg, begonnen hatte. Ihre Stimme war rau, aber sie drang damit an unbekannte Orte vor. Seine andere Göttin, ebenfalls schwarz, kam wie Mama aus Philadelphia, und ihr Scatgesang war furioser als jedes Pizzicato von Paganini. Jonah saß da wie in Trance, vorgebeugt, mit offenem Mund, bereit, auf die Bühne zu springen und mitzumachen. Manchmal musste ich ihn wirklich am Kragen festhalten. Zum Glück habe ich das getan, denn auf dem langen Rückweg – als wir beide nördlich der 59. Straße in das obligatorische »Take the A-Train« ausbrachen – hörte ich, wie leblos seine Kunstliedstimme, seine lautstarke Präzision auf jeder Bühne südlich der 14. geklungen hätte.
    Seine Wärter in Juilliard hatten keine Ahnung davon, dass er in den frühen Morgenstunden mit der Halbwelt von Manhattan flirtete. Nach seinem Konzerterfolg hatte mein Bruder das Diplom so gut wie in der Tasche. Die Mentoren überlegten, wie es mit ihm weitergehen sollte. Agnese wollte, dass er weiterstudierte, attacca, ohne Pause zum Atemholen. Grau, der meinen Bruder erbarmungsloser liebte, schlug vor, dass er hinaus in die Welt gehen und sich einen Begriff von der Brutalität des Musikbetriebes machen sollte, von den Qualen der Suche nach Engage-ments – das einfachste Mittel, seiner Stimme, die noch immer ein jugend-liches Timbre der Unschuld zeigte, zur Härte des Erwachsenen zu verhelfen.
    Die Achse Rom-Berlin verständigte sich auf eine Europareise. Sie unterbreiteten Jonah ihre Pläne. Wenn Jonah einen symbolischen Beitrag selbst beisteuerte, konnten sie ihm ein Stipendium verschaffen, kosten-lose Unterkunft und einen hoch angesehenen Lehrer in Mailand. Italien war die Heimat des Gesangs, das Mekka eines jeden Sängers, die Traum-welt, mit deren Bildern einst Kimberly Monera die kindliche Phantasie meines Bruders betört hatte. Vier Jahre lang hatte er die Sprache studiert und konnte mit der Leichtigkeit des Einheimischen Dinge auf Italienisch sagen wie »Ewige Liebe – das ist der Fluch unseres Blutes !« oder »Nicht einmal die Gleichgültigkeit der Götter wird mich aufhalten«. Keine Frage: Die Pilgerfahrt zum gelobten Land des Gesanges war sein nächstes Ziel. Offen war nur, wann er aufbrechen würde.
    Als mein Bruder nach Juilliard gegangen war, hatte er nichts weiter gesucht als eine Ablenkung von seinem Kummer. Und jetzt machte er Pläne für die Reise nach Mailand ausschließlich als Alternative zu der Aussicht, auf ewig in Claremont hängen zu bleiben. Auch Pa war überzeugt, dass es der richtige nächste Schritt war. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen, Sohn.« Ruthie kaufte von dem Geld, das sie mit Babysitten verdiente, einen italienischen Sprachkurs auf Schallplatten, damit sie in den Wochen vor dem Aufbruch in der Sprache seines neuen Landes mit ihm plaudern konnte. Aber nach ein paar Runden, in denen Jonah immer wieder ihre Aussprache bemäkelte, war sie die Sache leid, und der Sprachkurs landete auf unserem Stapel mit Opernplatten.
    Gleich nach dem Examen sollte Jonah aufbrechen. Am Abend vor der Zeugnisverleihung kam er in die Küche und half mir beim Abwasch. Er sah verklärt aus, besser gelaunt, als ich ihn seit Wochen gesehen hatte. Ich schrieb es dem nahen Aufbruch zu.
    »Fahr du für mich, Muli. Ich bleibe noch ein Weilchen hier.« Ich lachte. »Ehrlich.« Meine Mundwinkel spannten sich. Ich wartete, dass er mit der Sprache herausrückte. »Ehrlich, Joey. Ich fahre nicht. Du weißt, warum. Du weißt Bescheid, Bruderherz. Die letzten Jahre waren doch wirklich die Hölle, oder? Für uns beide. Du hast das von Anfang an durchschaut, als ich noch werweißwas glaubte, als ich getan habe ...«
    »Jonah. Du musst fahren. Es ist alles geplant. Sie haben sich so viel Mühe gegeben.«
    »Damit ein Negerjunge auch mal den Vatikan sieht.«
    »Jonah. Das darfst du nicht. Du kannst doch eine solche Chance nicht einfach wegwerfen.«
    »Was werfe ich denn schon weg? Verdammt, die werfen mich weg. Alle haben ihre Pläne für mich, nur ich nicht. Stell dir doch vor, was ich wäre, nach einem halben Jahr Europa. Ihr Almosenempfänger. Ihre gute Tat. Meinen Gönnern für immer verpflichtet. Tut mir Leid. Kann ich nicht machen, Joey.«
    Er wandte den Blick ab, wich mir aus. Ein Muskel in seiner Wange

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