Der Klang der Zeit
fischen. Ich gehe selbst an Land und ich komme auch weiter.« »Bis du in Sicherheit bist?« »Von Sicherheit reden wir hier nicht, Charcoal.« »M-hm. Und denk dran, was Mama gesagt hat. Du sollst mich nicht Charcoal nennen.«
»War das ernst gemeint?«, fragt David, zwei Schritt zurück in jedem erdenklichen Zeitmaß. »Leute haben dieses Lied gesungen, nachdem sie ... Kann das sein? Das Lied stammt von ...«
»Achte nicht darauf, was dieser Mann sagt.« Das erste Mal, dass sie ihren Bruder einen Mann genannt hat.
Ihr Vater kehrt zurück und rettet sie voreinander. »Dr. Strom?«, hebt Dr. Daley an. »Würden Sie einem Laien ein paar Fragen beantworten? Ich traue mich ja kaum zu fragen ...« Delia hält den Atem an. Ihr Vater fürchtet sich vor dem Fragen ungefähr so viel, wie das Kaninchen vor der Dornenhecke. »Aber die Sache geht mir nicht aus dem Kopf.«
Delia wappnet sich. Jetzt kommt er, der Schlag der Realität, der den Traum, in dem sie und dieser Fremde sich verborgen haben, hinwegfegen wird. Nicht einmal die Liebe kann solche Realitäten überdauern. Sie hält still und wartet ab. Was war sie für ein Dummkopf, als sie glaubte, der Engel würde an ihrer Tür vorübergehen, als sie dachte, sie könnten dieser einen, kleinen Frage ihres Vaters entgehen. Die Frage ist schließlich da, sie ist hier im Siebten Bezirk von Philadelphia allgegenwärtig, drüben in Harlem, in dem schwarzen Kranz rings um Süd-Chicago. Die Frage, die die arbeitslose Hälfte ihrer Rasse, der an jeder Ecke der Weg versperrt wird, stellen möchte. Die Frage, die keiner mit Davids Hautfarbe beantworten oder auch nur begreifen kann. Gesenkten Hauptes spricht sie die Worte, die sie längst kennt, in Gedanken vor sich hin – die eine Kleinigkeit, die ihrem Vater nicht aus dem Kopf geht.
»Stellen wir uns vor, ich fliege mit annähernder Lichtgeschwindigkeit an Ihnen vorüber ...«
Delia blickt verdattert auf. Ihr Vater ist übergeschnappt. Beide: Beide sind sie verrückter, als die ganze Giftküche dieses Landes sie machen könnte. David Strom beugt sich vor, zum ersten Mal an diesem Abend ganz in seinem Element. »Ja.« Er grinst. »Reden Sie weiter. Ich weiß, was Sie meinen.«
»Dann würden nach dem Gesetz der relativen Bewegung Sie mit derselben Geschwindigkeit an mir vorüberfliegen?«
»Ja«, bestätigt Strom ihm mit der gleichen Begeisterung, die er gerade zuvor noch für ihr Klavierspiel gezeigt hatte. Endlich ein Thema, zu dem er etwas zu sagen hat. »Genauso ist es!«
»Aber das verstehe ich eben nicht. Wenn wir uns beide bewegen, haben wir doch beide das Gefühl, dass die Zeit des anderen sich im Vergleich zu unserer eigenen verlangsamt.«
»Das ist gut!« David ist Feuer und Flamme. »Sie haben sich mit der Sache beschäftigt!«
William Daley knirscht mit den Zähnen. Er beobachtet sein Gegenüber genau, wartet nur auf die kleinste Spur von Herablassung, einen hoch-mütigen Blick, der das Gefühl der Überlegenheit verrät. Aber alles was er sieht, ist Freude, ein Verstand, der aus der Einsamkeit hervorbricht zu einer unverhofften Begegnung.
»Ihre Zeit ist langsamer als meine. Meine ist langsamer als Ihre. Das spottet doch aller Logik.«
»Allerdings.« Der Mann kichert tatsächlich. »Auch da haben Sie Recht! Aber das liegt nur daran, dass unsere Logik bei äußerst niedrigem Tempo entstand.«
»Also für mich hört sich das nach vollkommenem Blödsinn an.« Dr. Daley spricht nicht von nutzlosen Parasiten oder von Judenverschwörung. Aber dass ihn die Sache empört, ist nicht zu übersehen. »Wer von uns nimmt das Richtige wahr? Wer von uns ist derjenige, der wirklich schneller altert?«
»Ah!« David nickt. »Ich verstehe. Nun, das ist eine andere Frage.«
Nichts, was Delia danach je hören wird, kommt einem Kaffeeklatsch im Affenhaus so nahe. Die Verlangsamung der Zeit bei Lichtgeschwindigkeit ist leichter zu begreifen als diese beiden Männer. Der ganze Raum um sie herum verschwimmt. Sie muss sich entweder auf die Unterhaltung konzentrieren oder auf die Sprecher, obwohl beides gleich aussichtslos ist. Ihr Vater hat sich tatsächlich mit der Sache beschäftigt, aber der Mann, den sie in sein Haus gezerrt hat, wird nie verstehen, warum. Aber auch David scheint in einem Wettstreit gefangen, der ihr unbegreiflich ist. Seine Arbeit ist ihr in diesem Augenblick fremder als das komplizierteste Stammesritual. Es riecht nach Balsam und Weihrauch. Es ist wie ein Gebetsmantel, den der Mann sich um die
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