Der Klang der Zeit
Schultern gelegt hat.
Sie studiert den Weißen, dann den Schwarzen. »Die physikalischen Gesetze sind«, versichert der Fremde, »in jedem bewegten System stets dieselben.« Ihr Vater sitzt reglos da, lässt alle Vernunft fahren und versucht an das Unmögliche zu glauben.
Sie schließen einen Waffenstillstand, jeder achtet den anderen, und dieser Frieden beunruhigt Delia mehr als jeder offene Krieg. Von beiden vergessen, zieht sie sich in das letzte Bollwerk der Vernunft zurück. Obwohl es gut sein kann, dass sie auch dort ihre Rechte längst verloren hat. Vielleicht wird ihre Mutter ihr den Zutritt verweigern.
Aber Nettie Ellen steht am Herd, genau wie sie vor dem Essen stand, als Charlie sie zur Verzweiflung trieb. Jetzt sind keine Tränen mehr zu sehen. Sie hat noch das Tuch in der Hand, obwohl längst alles abge-trocknet ist. Sie starrt vor sich hin, in einen Raum, den auch Delia sehen kann. Sie regt sich nicht, als ihre Tochter eintritt. Als sie spricht, spricht sie zu der Leere vor sich. »Ihr seht stark aus, ihr zwei zusammen. Als ob keiner euch etwas anhaben könnte. Als ob ihr euch schon viel länger kennt.«
Intuitiv hat ihre Mutter diese unglaubliche Wahrheit erfasst. Die seltsamen Ideen, die dieser Mann im Kopf hat, sein gekrümmter Raum, seine verlangsamte Zeit, der Osternachmittag auf der Mall haben ihnen irgendwie Zeit genug gegeben, sich zu finden. Der Vogel kann sich in den Fisch verlieben, und aus keinem anderen Grunde als dem, dass sie beide so erstaunt darüber sind, jeder in seinem blauen Element.
»Das ist ja das Verrückte, Mama. Das was ich einfach nicht verstehe. Viel länger als es ...«
»Das ist gut«, sagt Nettie Ellen, wendet sich ab und sieht nun das Spülbecken an. »Ihr werdet euren Vorsprung noch brauchen.«
Das mag als Tadel gemeint sein, aber es ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den Delia bereitet hat. Sie möchte ihre Mutter für diesen Segen umarmen, so zweifelhaft er auch ist. Aber der Segen hat ihnen beiden schon genug geschadet.
Ihre Mutter blickt auf, sieht Delia ins Gesicht. Zehn Jahre später, in einer anderen Stadt, sagt ihre Tochter: Sie ist so winzig. Dünn wie ein Stück Seife am Ende der großen Wäsche. »Weißt du, was die Bibel dazu sagt?« Nettie Ellen ruft sich das Bibelwort ins Gedächtnis. »Du weißt schon ...« Aber nur drei Worte murmelt sie noch, »seinem Weibe anhangen«.
Nicht zum letzten Mal verhandeln die beiden über Dinge, die zu schwierig sind für Worte. Delia nimmt ihrer Mutter das Geschirrtuch aus der Hand und hängt es an den Haken. Sie fasst ihre Mutter an den Schultern und dreht sie zu sich hin, und gemeinsam kehren sie ins Wohnzimmer zurück, um ihre fremden Männer neu zu erobern. Sie gehen nicht Arm in Arm, wie es vielleicht früher gewesen wäre. Aber immerhin gehen sie gemeinsam. Delia versucht gar nicht erst, ihre Mutter auf das vorzubereiten, was im Wohnzimmer vorgeht, denn das wäre eine Beleidigung für alle gewesen. Alle müssen zusehen, wie die anderen vorüberfliegen, jeder nach seiner eigenen Uhr.
Sie stellen fest, dass die Männer inzwischen vom Wettstreit zum Bündnis übergegangen sind. William und David sitzen einander gegenüber, jeder vorgebeugt, die Hände auf den Knien, als säßen sie draußen in der Gasse und würfen Münzen. Sie haben gegen das grundlegendste Gesetz des Universums eine Allianz geschmiedet. Keiner sieht auf, als die Frauen eintreten. Der Mediziner blickt nach wie vor finster drein, aber das Ringen, das sich in seinem Blick abzeichnet, ist das Ringen mit dem Engel der Erkenntnis. »Sie wollen also allen Ernstes behaupten, mein Jetzt läge zeitlich früher als Ihr Jetzt?«
»Ich sage, dass die ganze Vorstellung eines Jetzt sich nicht von meinem Bezugsrahmen auf den Ihren übertragen lässt. Das Wort ›momentan‹ hat keinen Sinn.«
Nettie Ellen wirft dem Mädchen einen ängstlichen Blick zu. Soll das dieselbe Sprache sein, die sie sprechen? Delia zuckt mit den Schultern: Männer und ihre verrückten Ideen. Wie Generationen vor ihr es getan haben, winkt sie einfach ab, eine Geste, die die Verbindung zur kopfschüttelnden Mutter wiederherstellt und doch auch die Nähe zum zukünftigen Bräutigam betont.
»Falls die Herren es nicht bemerkt haben«, sagt Nettie Ellen, »es ist schon spät.« Sie weist auf das Fenster, die Außenwelt, die keiner leugnen kann. Sie schließt die Uhrzeit aus den Lichtverhältnissen: nichts ein-facher als das.
»Das wäre also unsere legendäre
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