Der Klang der Zeit
Gastfreundlichkeit.« William zwinkert David zu.
Strom springt auf. »Höchste Zeit, dass ich gehe!«
Nettie Ellen ringt die Hände. »Das ist ja gerade das Gegenteil von dem was ich sagen wollte. Ich wollte fragen, ob Sie denn wirklich noch zu so später Stunde mit dem Zug zurückfahren wollen?«
Delia beobachtet ihre Mutter und sieht, wie ungeheuer schwer es ihr fällt, spontan zu wirken. Das Angebot, das sie ohne zu überlegen in jeder anderen Welt machen würde, nur nicht in dieser, schnürt ihr die Kehle zu, droht sie zu erwürgen. Und Delia weiß auch gar nicht, ob sie es gutgeheißen hätte, hätte ihre Mutter dies Angebot ausgesprochen. Den Mann unter einem Dach mit ihren Eltern unterzubringen ... Sie steht da und horcht, windet sich innerlich. Auch ihr Fremder müht sich freund-lich, den Flug der Gedanken abzubremsen, die Bewegung so weit zu verlangsamen, dass er versteht, wovon die Rede ist. Die drei Gastgeber stehen da und nicken ihrem Gast zu, und jeder wartet, dass einer der anderen sagt: Wir haben ein Gästezimmer, Sie können bleiben.
So stehen sie eine Ewigkeit. Und dann hört die Ewigkeit auf. Michael und Charles kommen ins Zimmer gestürmt, atemlos vor Aufregung. Der Jüngere bekommt zuerst ein Wort heraus. »Die Deutschen haben Polen überfallen. Mit Panzern, Flugzeugen –«
»Das stimmt«, bestätigt Charles. »Im Radio kommt es auf allen Sendern.«
Aller Augen sind auf den Deutschen in ihrer Mitte gerichtet. Nur die seinen, die suchen die Frau, die ihn hierher gebracht hat. Sie sieht es, schneller als das Licht die Strecke zwischen ihm und ihr zurücklegt: Die Angst, die ihn zum Abhängigen macht. Alles was die Kultur dieses Mannes anfasst, verbrennt. Seine Wissenschaft, seine Musik mühen sich, diesen Krieg zu begreifen, den sie auf ihren Höhenflügen haben ge-schehen lassen. Und mit einem einzigen Schlag geht alles, was diesem Mann je etwas bedeutet hat, in Flammen auf.
Blitzartig begreift sie, was die Nachricht bedeutet. Und sie stellt keine Frage. Seine Angehörigen sind tot, sein Land ist unerreichbar geworden. Er hat keine Familie, keine Heimat, kein Zuhause mehr, er hat nur noch sie. Er gehört zu keiner Nation mehr, nur noch zu ihrem souveränen Staat für zwei.
MEIN BRUDER ALS OTELLO
»Was seid ihr Jungs eigentlich?«, fragt der Mann aus Carolina. Und die Antwort kommt über Nacht: Amerikas neue Stimme. Nicht die gegenwärtige, sondern die zukünftige. Ruhm ist es eigentlich nicht, aber auch nicht mehr die Freiheit des Unbekannten.
Als wir Durham verlassen, haben wir einen Stapel Visitenkarten in der Tasche, Leute, mit denen wir uns in Verbindung setzen sollen. »Schau sich einer meine Brüder an«, sagt Ruth. »Kommt ihr zwei jetzt ganz groß raus?« Jonah nimmt die Herausforderung nicht an. Ich hingegen werde den Druck des Musikbetriebes nie stärker spüren als in diesen Worten.
Jonah sitzt da wie die Made im Speck. Überall im Land wollen Leute ihn singen hören, manche Einladungen gehen sogar so weit, dass sie ihm die Spesen zahlen. Plötzlich zeigt sich eine Zukunft, er muss Entscheidungen fällen. Als Erstes braucht er einen neuen Gesanglehrer. Juilliard hat er eine lange Nase gedreht, auf den Affront des Abgangs noch den Gewinn des Wettbewerbs gesetzt, gegen zahllose ältere und erfahrenere Sänger und ohne jeden Unterricht. Aber nicht einmal Jonah ist so verrückt, dass er sich eine Zukunft ohne Lehrer ausmalt. Leute in seinem Beruf studieren bis zum letzten Atemzug. Und gehen danach noch zur Abendschule.
Mit seinen Lorbeeren in der Tasche könnte er zu den besten Tenören der Stadt gehen. Er denkt an Tucker, Baum, Peerce. Aber er verwirft sie alle. Sein größtes Kapital ist die Klangfarbe, sein geschliffener Silberpfeil. Die Gefahr ist zu groß, dass diese Männer etwas Groteskes aus ihm machen, seinen unverwechselbaren Ton zerstören. Seine Stimme soll klar, hell, beweglich bleiben. Er will auf Konzerttournee gehen, sein Instrument in den verschiedensten Sälen vervollkommnen, und zu seinem Traum von der Opernkarriere will er erst zurückkehren, wenn er weiß, wie er an Substanz gewinnen und trotzdem seine Reinheit erhalten kann.
Er entscheidet sich für eine Frau als Lehrer. Er wählt sie aus allen erdenklichen Gründen, nicht zuletzt der auffälligen rotblonden Haare wegen. Ihr Gesicht ist ein Schiffsbug in stürmischer See. Ihre Haut ein Vorhang aus Licht.
Was er lernen muss und was er von Lisette Soer lernen kann, ist Sinn für Dramatik. Sie ist ein
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