Der Klang der Zeit
lyrischer Sopran, gefragt in San Francisco, Chicago und New York, aber noch nicht ganz im Konzertbetrieb aufgegangen. Ihre Raketen zünden gerade erst. Sie ist nur ein paar Jahre jünger als Mama war als sie starb. Nur ein Dutzend Jahre älter als Jonah.
Ihre Stimme kommt an die der großen Diven nicht heran, aber sie wird immer häufiger in Rollen besetzt, auf deren Sex-Appeal sonst nur das Programmheft hinweist. Sie ist eher eine Schauspielerin, die auch singen kann, als eine schauspielernde Sängerin. Wenn sie durchs Zimmer geht, ist es, als erwache eine Statue zum Leben. Jonah schnurrt wie ein Kater, als er von der ersten Stunde zurückkommt. In seiner neuen rotschöp-figen Lehrerin findet er die Intensität, die er gesucht hat. Jemanden, der ihm alles beibringen kann, was er für die Bühne wissen muss.
Miss Soer unterstützt die Pläne ihres neuen Schülers. »Erfahrung ist alles«, sagt sie. »Geh raus in die Welt, sing auf jeder Bühne, die du haben kannst. East Lansing. Carbondale. Saskatoon, Saskatchewan. All die Orte, wo Kultur nur ab und zu als Sonderposten auf den Markt kommt. Zeig dich nackt. Lerne Angst und Kummer direkt oben auf der Bühne kennen, und was du da nicht lernst, das bringe ich dir hinterher bei.«
Gleich zu Anfang sagt sie ihm: »Such dir eine eigene Wohnung.« Er gibt diesen Befehl an mich weiter, als hätte er ihn selbst erfunden. Man kann doch nicht erwarten, dass man mit dem Singen vorankommt, wenn man noch unter dem Dach der Familie wohnt. Man schafft nie den Sprung in die Zukunft, wenn man immer in der Vergangenheit bleibt. Wachstum ist ein Pfeil, und er zeigt immer nur in eine Richtung.
Ich war bei alldem nicht vorgesehen, da war ich mir sicher. Aber so weit, dass sie Jonah vorschlägt, mich zu verstoßen, geht Lisette doch nicht. Sie beschließen, dass ich mit ihm zusammen ausziehen soll, an einen Ort, an dem wir uns entwickeln können. Ruth sitzt in der Küche, zupft an ihren Rattenschwänzen. »Das ist doch Unsinn, Joey. Wieso wollt ihr ausziehen, wo ihr hier einfach wohnen bleiben könnt?« Pa nickt einfach nur, als sei er derjenige, der deportiert werden soll, und als habe er es schon lange kommen sehen. »Liegt es dran, dass ich manchmal meine Freundinnen mit nach Hause bringe?«, fragt Ruth. »Wollt ihr weg von mir?«
»Wie wär's mit unserem Studio?«, frage ich Jonah. Aber das ist zu klein, um darin zu wohnen. »Und eine größere Wohnung im selben Haus?«
»Zu weit draußen«, sagt er. »Das Leben spielt sich im Village ab.« Und dort finden wir auch unser neues Quartier. Das Village ist pures Theater, ein einziges großes Übungsfeld für das, was Madame Soer in ihrem Lieblingsrefrain »Leben mit höchster Intensität« nennt.
Höchste Intensität ist das Wichtigste, was Lisette ihrem Schüler vermitteln kann. Ihr ganzer Körper ist voll davon. Ihre Stimme ist ein Lichtstrahl, der selbst den dicksten Orchesternebel durchdringt. Aber die Stimme allein kann ihren Erfolg nicht erklären. Es sind die Bewegungen der Tänzerin. Ihr Auftritt ist ein einziges Versprechen, selbst in Hosenrollen, das Flammenhaar unter einer gepuderten Perücke versteckt, knisternd, geschmeidig, sinnlich. Nur ein paar Schritte auf der Bühne, und alle sind hypnotisiert. Selbst ihre Unruhe ist die einer Leopardin. Das will sie meinem Bruder beibringen: Spannung als Rüstzeug für den schwerelosen Ton.
Bei Jonahs dritter Stunde lässt sie ihn einfach stehen. Er steht da, über den schwarzen Notenständer gebeugt, und zerbricht sich den Kopf, was er falsch gemacht hat. Zwanzig Minuten lang wartet er, aber sie bleibt fort. In einer Wolke gekränkter Unschuld kehrt er in unsere neue Zweizimmerwohnung an der Bleecker Street zurück. Ein ganzes Wochenende lang sage ich nur immer wieder: »Das ist ein Missverständnis. Vielleicht war ihr nicht gut.« Jonah liegt im Bett, windet sich mit Bauchkrämpfen. So sehr als Gefangenen seines Körpers habe ich ihn noch nie erlebt.
Zur nächsten Unterrichtsstunde schwebt Lisette ins Zimmer, als sei nichts geschehen. Sie geht zu ihm hin und küsst ihn auf die Stirn, weder Entschuldigung noch Vergeben. Einfach nur die unerklärliche Fülle des Lebens. »Wir nehmen noch einmal den Gounod, von deinem zweiten Auftritt an, bitte.« Am Abend liegt er wieder im Bett, überwältigt von seinen Gefühlen, spannt Muskeln an, deren Existenz er fast vergessen hatte.
Singen, sagt Lisette, ist nichts weiter als im richtigen Augenblick die richtigen Fäden zu ziehen. Aber
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