Der Klang der Zeit
Vergnügen an ihrer Rolle hatte. Lisette ist launisch, leidenschaftlich, geht ganz und gar auf im unglücklichen Glück dieser Rolle. Als sie an ihr »Per pietá« kommt, ist Jonah schon verloren, und selbst ich vergebe ihr alles.
»Eine heiße Nummer«, meint der Leichenblasse beim langen Szenenapplaus. »Die Arie, meine ich.« Seine Begleiterin versetzt ihm einen weiteren Schlag, diesmal mit dem Handrücken.
Vom »Trinkspruch«-Quartett bis zu der umständlichen Auflösung brilliert Lisette, geradezu göttlich in ihrer Menschlichkeit. Sie strahlt das Soziale aus, lebt durch die Gnade derer, die vor ihr sitzen, hier in diesem Saal, vom Parkett bis hinauf zum höchsten Balkon. Sie braucht Gesell-schaft, sie lebt von anderen, und doch existiert ihre Kunst in einem abge-schlossenen Vakuum. Die Kämpfe des Jahres 1963 sind ihr gleichgültig. Sie könnte ebenso gut im Burgtheater in Wien auf der Bühne stehen, 1790: Generalprobe im Paradies, am Morgen nach der letzten Revolu-tion.
Heute Abend ist sie der Liebling der Privilegierten. Der Applaus ruft die Akteure immer und immer wieder auf die Bühne. Rosensträuße werden ihr heraufgereicht, mehr als Dorabella und Despina zusammen bekommen. Einmal blickt sie uns im Verneigen an: Versteht ihr jetzt? Leben mit höchster Intensität? Ein alter Trick, ein altes Rezept für die, die von der Liebe der Zuschauer leben: Der Blick, bei dem jeder im Saal sich allein angesehen fühlt.
Wir versuchen gar nicht erst, uns ins Defilee der Gratulanten einzureihen. Ganz New York hebt am heutigen Abend sein Glas auf Lisette Soer, morgen wird es schon wieder ein anderer sein. Sie würde uns in dem Gewühl der Verehrer nicht einmal sehen. Meine beiden Nachbarn beschließen ebenfalls zu gehen. Aber sie reden noch weiter über sie, vor uns in der Menschenmenge, die zum Ausgang strebt, unterwegs zu dem Leichenschmaus nach der Premiere, den es für Leute wie sie sicher gibt.
Im Foyer klingt Jonah unschlüssig. »Heute Abend hat sie die freie Auswahl, meinst du nicht auch, Muli?« Er will keine Antwort. Er will nur, dass ich ihn nach Hause bringe, in die Bleecker Street. »Komm, wir nehmen ein Taxi.«
»Sicher«, sage ich. Aber ich steuere ihn zur U-Bahn.
Als Jonah am Mittwoch zum Unterricht kommt, schäumt sie vor Wut. »Ich gebe euch Karten für die Premiere, die größte Rolle meiner Karriere, und du machst dir nicht mal die kleine Mühe und kommst hinterher hinter die Bühne und sagst mir, ob es dir gefallen hat! Ja dann eben nicht. Raus hier!« Sie schlägt ihm die Studiotür vor der Nase zu und weigert sich, sie wieder zu öffnen.
Völlig zerknirscht kommt er nach Hause. Er setzt mich an den Tisch und diktiert mir eine Premierenkritik, Note für Note, lässt keine einzige Bewegung ihrer Muskeln aus. Der Brief wird ein Meisterwerk der Musikkritik. Seine Beobachtungen gehen weit über alles hinaus, was ein gewöhnlicher Kritiker wahrnimmt. Sein Urteil ist so wohl begründet, so voller praktischer Details, dass es etwas Zwingendes, Objektives hat.
»Es war schiere Selbstsucht, dass ich nicht zu dir gekommen bin«, lässt er mich schreiben. »Ich wollte die überirdische Erscheinung noch ein wenig länger behalten, bevor ich zur Erde zurückstürzte.«
Sie antwortet ihm. »Deinen Brief werde ich in mein Album kleben, gleich neben die Notiz von Bernstein. Du hast ganz Recht: Wir müssen die Aura festhalten, so lange wir nur können. Das hätte ich gern mit dir gemeinsam getan. Kann ich meinem besten Schüler eine Privatstunde als Entschuldigung anbieten?«
Würde hat Jonah nie viel bedeutet. Jetzt ist sie nicht einmal ein Vorwand. »Sag mir, dass sie schlecht ist, Muli.« Wir versuchen zu üben. Er kann sich nicht konzentrieren. Er trifft den Ton nicht und singt taktelang weiter, bevor er es bemerkt. Ich habe mir angewöhnt, bei solchen Zer-streutheiten einfach weiterzuspielen. Nur wenn er redet, halte ich inne. »Sag mir, dass diese Frau nicht gut für mich ist.«
»Sie ist nicht schlecht. Nur intrigant. Sie weiß alles, was es über ... Schauspielerei zu wissen gibt. Aber sie weiß nicht viel über Menschen.«
»Was soll das heißen?« Er klingt beleidigt, bereit, mit fliegenden Fäusten aus seiner Ecke zu springen, sobald die Glocke ertönt.
»Sie will, dass du ihr zu Füßen liegst. Sie tut alles, damit du sie anbetest.«
Er blickt mich über den Notenständer hinweg forschend an. Sein Gesicht ist eine Maske. Auch etwas, das sie ihm beigebracht hat: Niemals Gefühle zeigen.
Weitere Kostenlose Bücher