Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
»Was zum Teufel weißt du denn davon?«
    »Nichts, Jonah. Ich weiß überhaupt nichts.«               
    Ich starre auf meine Klaviertasten, er auf mich. Wir sitzen lange Zeit so da, eine werkgetreue Interpretation von John Cage' 4'33". Schade, dass wir kein Tonbandgerät haben; unsere erste Aufnahme wäre ein Kinderspiel gewesen. Ich werde nicht das erste Wort sprechen. Aber ich bin sicher, dass er mich dazu zwingen will. Dann geht mir auf, dass er einfach mit seinen Gedanken anderswo ist. Schließlich murmelt er: »Wenn ich mir das so überlege, ich hätte absolut nichts dagegen, ihr zu Füßen zu liegen.«
    Ich klimpere ein klein wenig Scriabin, ein improvisiertes Poéme de l'Extase. Dazu braucht er kein Programmheft. Er nickt heftig, ein Grinsen, das nur für sich bestimmt ist. »Weißt du, was das Schlimme ist, Muli?«
    »Was ist das Schlimme, Jonah?«
    »Wenn du es unbedingt wissen willst, das Schlimme ist, dass sie so intrigant ist.«
    Langsam, verführerisch, spiele ich Salomes Schleiertanz, bereit, ihr bei der ersten Falte auf seiner Stirn einen Mantel überzuwerfen.
    »Ich weiß, ich weiß. Ich muss mein Leben in den Griff bekommen, andernfalls ...« Er pocht auf den Notenständer beim Gedanken an unsere nutzlose Probe. »Andernfalls werden wir nie wieder guten Gewissens Schubert aufführen können!« Er kichert wie ein Irrer. Einen erschrok-kenen Moment lang male ich mir aus, wie ich Pa verständigen oder einen Arzt rufen muss. Mein Schrecken stachelt ihn nur noch weiter an. »Es ist aus mit mir«, sagt er, als er sich wieder fängt. »Ich muss irgend-wie mit dieser Frau zurande kommen.«
    »Da gibt es eine Möglichkeit. Finde heraus, ob sie blufft.«
    »Oh.« Pianissimo. »Das habe ich schon herausgefunden ... sie blufft nicht.« Er versetzt mir einen Boxhieb, zerknirscht jetzt, will retten, was noch zu retten ist. »Tut mir Leid, Muli. Ich wollte es dir sagen. Ich habe es versucht, schon vor einer ganzen Weile. Ich wusste nicht wie.«
    »Bist du ... Wie lange geht das schon?«
    »Keine Ahnung. Wochen? Hör mal, Muli. Ich habe doch schon gesagt, dass es mir Leid tut. Du musst nicht versuchen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Schlechter kann es nicht mehr werden.«
    Aber ich bin nicht wütend. Fühle mich nicht einmal hintergangen. Im Gegenteil, ich fühle mich befreit, verliere mich im Unvorstellbaren. Mein Bruder hat das Schauspielern erlernt. Er wollte es mir sagen. Versuchte es, aber er konnte es nicht. Er hat mit einem Geschöpf aus einem grausamen Märchen geschlafen, eher so alt wie unsere Mutter als wie
    wir. Ich habe es alles gesehen und geleugnet: seine reizbare, zerstreute Art, die zunehmende Spannung zwischen uns beiden in den letzten Wochen. Er erzählt mir die Einzelheiten, alles was ich schon vor Wochen hätte erraten sollen. Das meiste lasse ich nur ungläubig vorüberziehen.
     
    Das erste Mal ist es wie ein Teil seines Unterrichts. Sie bringt ihm Holsts »Floral Bandit« bei, und wie immer mit den Händen. Drückt hier, formt dort eine Rundung. Jeder Muskel muss mithelfen, dass die Worte zu ihrem Recht kommen. Tja, die Worte sind muffig und diffus. Sie weiß, dass er nichts damit anfangen kann. »Jonah.« Sie zwickt ihn in die Seite, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. »Wenn du nicht an dieses Lied glaubst, wie kannst du dann erwarten, dass ein ganzer Saal voller Leute an dich glaubt? Ja, ich weiß. Es ist sentimentaler Blödsinn, schon uralt, als der Bursche es vor fünftausend Jahren geschrieben hat. Aber es könnte auch anders sein. Dieses Gedicht könnte der Mittelpunkt der Schöpfung sein.«
    »So was nennst du ein Gedicht?«
    »Du verstehst mich immer noch nicht.« Sie steht da, unmittelbar vor ihm, und greift ihm unter die Achseln, schüttelt ihn, wie eine panisch erschrockene Mutter ein Kind schütteln würde, das gerade mit knapper Not dem Tod entgangen ist. »Und bevor du das nicht begreifst, bist du nicht mehr als ein dummer Junge mit einer hübschen Stimme. Was du von diesem Blödsinn hältst, spielt keine Rolle. Du musst dich zum Instrument eines anderen machen. Von jemandem, der andere Wünsche, andere Sorgen hat. Wenn du dich nur mit dir beschäftigen willst, kannst du das Singen getrost sein lassen. Wenn du nicht auch jemand anderes sein kannst, brauchst du gar nicht erst auf die Bühne zu gehen.«
    Sie zieht ihn näher heran, legt ihm beide Handflächen auf die Brust. Das hat sie schon häufiger gemacht, aber noch nie so zärtlich wie jetzt.

Weitere Kostenlose Bücher