Der Klang der Zeit
»Musik, das bist nicht du. Sie kommt von draußen und soll auch wieder nach draußen zurück. Du selbst bist nur das Medium.« Sie schubst ihn fort, dann, als er sich umdrehen will, zerrt sie ihn am Hemd zurück. »Deswegen singen wir doch überhaupt. Neunundneunzig Komma neun neun neun Prozent« – jede Ziffer betont sie mit einem Schlag auf seine Brust – »von allem, was je geschehen ist, ist jemand anderem geschehen, nicht dir, jemandem, der schon seit Jahrhunderten tot ist. Aber in dir erwacht alles neu zum Leben, wenn du ihm Raum dazu gibst.« Sie piekt ihn aufs Brustbein, und er fasst ihre Hand. »Ah!«, sagt sie, wendet sich von ihm ab. »Ah! Willst du dich wehren?«
Überrascht lässt er das Handgelenk los.
»Ach? Diesmal doch nicht?« Sie fasst von neuem seine Hand, blickt auf, sieht sich im Zimmer um, suchend. »›Sahst du sie? Kennst du ihren Namen ?‹«
Einen Moment lang glaubt er, sie habe den Verstand verloren, wieder eine bleiche Ophelia, gescheitert an den tückischen Klippen westlicher Hochkultur. Dann geht ihm auf, dass sie eine Zeile aus dem verfluchten »Floral Bandit« zitiert. Die blasse, blutleere Frühlingsdiebin.
Sie drückt seine Hand an ihren weichen Busen. Der Jasminduft ist ihr Schweiß. Sie fängt seinen Blick ein. Ihre unglaublichen Augen, Jade vor dem Bernstein ihres Haars, grün wie die Worte des Lieds, mit dem sie ihn nun hänselt. ›»Was ist sie? Die Sylvia, die alle Welt preist?‹« Sie lächelt ihn an, steht auf Zehenspitzen, fährt ihm mit einem Finger über den Hals. Sie fasst ihn unters Kinn, schlenkert seine Hand in der ihren wie ein kleines Mädchen, wie das unschuldige anämische Kind, mit dem er einmal verlobt war.
Es ist ein Spiel für Sklaventreiber. Demütigung des Verzweifelten. Aber er spürt ihren Atem auf seiner Haut und steht still wie ein Verurteilter. Sie legt ihm den demütigenden Finger an die Lippen. »Vergebens müht des Menschen Zung' sich, sieht sprachlos Knospen sich entfalten«
Lachfältchen erhellen jeden Winkel ihres Gesichts. Sie reckt sich, bis sie auf seiner Höhe ist. Er hört sie sagen: »Willst du mich?« Später bestreitet sie es, obwohl es keine Worte in dem Gedicht gibt, die er so missver-stehen könnte.
Das ist die Lektion, in der sie ihm beibringt, wie man einem Lied Wahrheit einhaucht. Und die Nächste folgt sogleich. Als er sie an sich zieht, hält er es für seine eigene Tollkühnheit. Er malt sich aus, wie sie sich empört losreißt. Aber sie reißt sich nicht los. Ihr Mund wartet, wie schon ewig vertraut. Er drückt seine Haut an die ihre, feuchte an feuchte Lippen. Was er jetzt von ihr schmeckt, wird er für immer behalten, und er bekommt das Doppelte von dem, was er erwartet. Als die Lippen sich trennen, wendet er den Blick ab. Sie fasst seinen Kopf und dreht ihn zu sich hin. Er soll sehen, dass sie es ist. Immer noch sie. Und immer noch lächelt. Siehst du ?
Der Schock ist zu viel für ihn. Er kann sie ansehen. All ihre Lachfältchen blicken ihm entgegen, applaudieren seinem Sieg, fordern ihn heraus, fragen ihn: Wie viel möchtest du sehen? Alles deins, sieh es nur an, fass es nur an. Wäre seine Angst nicht so groß gewesen, seine Freude hätte ihn umgebracht. Die Unterrichtsstunde wird auf ihrer Chaiselon-gue fortgesetzt, einem alt-wienerischen Sofa, dessen Rolle in ihrem Studio ihn schon immer beschäftigt hat. Sie zeigt ihm, wie er sie ausziehen muss. Während all dessen plappert sie sinnloses Zeug vor sich hin, halb gesungene Lautfetzen, Worttröpfchen aus dem verfluchten Gedicht. »›Denn keiner kennt der Tiefe Sang, noch kann erraten der Fiedel Klang. ‹«
Sie ist vollkommener, als er sie in seinen schönsten Träumen erblickt hat. So hell wie das erste, bleiche Mädchen, das er nie sehen durfte. Ihre Flanken überraschen ihn, die Fülle der Brüste, die Grübchen hoch oben an ihren Oberschenkeln. Er muss sie in der gleißenden Sonne des Ateliers betrachte. Er fühlt sich lächerlich klein mit seinen schmächtigen Armen, seiner goldbraunen haarlosen Brust, der jugendlichen Impulsivität seiner Hände. Sie nimmt ihn in einer schaukelnden Bewegung, stößt einen überraschten Laut aus, und schon ergießt er sich über ihren gesamten Körper. Selbst das genießt sie, und ihre Freude daran vertreibt seine Scham. »Das nächste Mal«, verspricht sie. »Die nächste Lektion!« Sie presst seine Lippen zusammen, bringt ihn zum Schweigen, zieht ihn an – es kommt noch ein weiterer
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