Der Klang der Zeit
angespannte –Fröhlichkeit in dem Raum, dass der Richter, ein alter Spanier, dessen Haut dunkler war als die von Delia, die Miene verzog. Ob die beiden sich sicher seien, wollte er wissen. Aber das fragte er von Amts wegen alle Paare. Und alle, das verrieten ihnen die schlaffen Schultern, die schicksalsergebene Haltung des Richters, waren sich sicher.
Drei Kollegen aus der physikalischen Fakultät von Columbia – alle drei Flüchtlinge aus Mitteleuropa, die Stroms Liebe zur Musik teilten – kamen »zum Trost für die arme Braut«. Der glückliche Zauberer hatte ihnen in ihrer Erforschung von Raum und Zeit oft genug mit einer auf Servietten gekritzelten Formel aus einer Verlegenheit geholfen, da waren sie es ihm schuldig. Und der Tag in Philadelphia war ja fast wie ein Betriebsausflug. Aber Strom weinte vor Glück, als er sie kommen sah. Während der kurzen Zeremonie saßen sie auf der hintersten Bank in der Amtsstube und fachsimpelten in einer Sprache, die wie Griechisch klang, und verstummten erst, als der Richter ihnen einen bösen Blick zuwarf.
Franco Lugati, Delias Gesanglehrer, war der einzige andere Weiße, wenn man denn Juden und akademischen Zigeunern diesen Status zugestehen wollte. Er kam sogar noch mit zu dem Empfang, der nach der Trauung im Hause Daley stattfand. Als Geschenk für das Brautpaar hatte er ein Kammerensemble organisiert – Oboe, Fagott, zwei Violinen, Viola und Continuo –, das ihn zu Bachs Hochzeitsarie »O du angeneh-mes Paar« begleitete. Das Paar selbst war viel zu aufgedreht, um wirk-lich zuzuhören. Dr. Daley stand in Habachtstellung bei den Musikanten, als hielte er Wache. Die Instrumentalisten verabschiedeten sich eilig; gerade einmal ein rasches Glas Punsch nach der letzten Kadenz gestat-teten sie sich. Lugati flocht seine Entschuldigung gleich in die Glück-wünsche ein und ging bald darauf.
Als die Musiker erst einmal fort waren, fing die echte Musik an. Die Zwillinge gaben eine halb improvisierte Burleske über die Sangeskunst ihrer Schwester zum Besten, samt aufwändigen Kostümwechseln, und die Parodie war so dick aufgetragen, dass selbst David Strom wusste, wann er zu lachen hatte. Dann spielten sie – da sie ja wussten, dass ihr Vater es unter diesen Umständen kaum verbieten konnte – auf dem Klavier einen swingenden, melancholischen Zwölftakt-Blues, und Michael improvisierte dazu etwas über die Schrecken des Ehestands und die verlorene Freiheit. Charles lief nach oben und kehrte mit seinem Tenorsaxophon zurück. Aber Delia Strom, geborene Daley, schwebte längst im siebten Himmel und ließ sie alle gewähren. Sie verwies sogar ihre Schwestern auf die hinteren Plätze, übernahm selbst die erste Stimme und sang ein paar übermütige Riffs.
Und dann begann die ganze Gesellschaft zu singen. Niemand bestimmtes hatte damit angefangen, alle sorgten dafür, dass es weiterging. Manche Textzeilen verstand Strom – Bruchstücke aus dem Hohen Lied Salomos, neu gefasst an einem Ort so weit weg von Kanaan, wie man überhaupt nur kommen konnte. Aber in dieses älteste Hochzeitslied der Menschheit mischten sich Klänge, die er nicht kannte. Bruder, bist du gekommen, ihr zu helfen? Reich mir die Hand zum Gebet. Schwester, bist du gekommen, ihm zu helfen ? Reich mir die Hand zum Gebet.
Ohne Absprache wurde aus dem Grüppchen von Gratulanten ein Chor, ein fünfstimmiger Gospel, aus dem selbst jetzt immer wieder der verminderte Septakkord herauszuhören war, der auch im größten Glück nie ganz verschwand. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Strom so etwas wie Geborgenheit. Das Lied entwickelte sich immer mehr zum puren Rhythmus, zum Pulsschlag, wenn auch verziert mit Ornamenten, von denen jedes ihm neu vorkam, nie gehört.
Während dieser Darbietungen saßen Stroms Kollegen beisammen auf dem Daleyschen Sofa, balancierten ihre Teller mit Braten auf den Knien. »Meine Herren, Sie sind unfreundlich«, tadelte David sie. »Das ist eine Hochzeit. Kommen Sie, reden Sie mit den anderen, bevor ich Ihnen die Ohren lang ziehe.«
Aber sie sahen ihn nur verwundert an, erzählten ihm das Neueste vom Teilchenbeschleuniger in Berkeley und dessen jüngstem Versuchsergebnis – Spuren eines Elements, das die Materie über die Grenzen der Natur hinausführte: Uran. Stroms junge Ehefrau musste kommen und ihn aus der erregten Diskussion fortzerren, zurück zu seiner eigenen Feier.
Dr. Daley, der das Grüppchen Weiße im Auge behalten hatte, hörte, was es an Neuigkeiten gab. »Die Herren
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