Der Klang der Zeit
vom Arzt zurück. »Bald werden wir drei sein, David. Wie soll das gehen?«
»Du hast doch schon gesehen, wie das geht!«, antwortete er. Und das stimmte.
Sie sang ihrem Kind im Mutterleib etwas vor. Sie ließ sich ganze Opern aus Nonsensversen einfallen. Abends sangen sie und David zwei-stimmig an dem Spinett, das ihre Eltern ihnen geschenkt hatten. Sie presste den Bauch an das vibrierende Holz, ließ sich von den Wellen der Harmonien durchdringen.
David legte das Ohr an die Rundung und lauschte minutenlang. »Da tut sich schon was da drinnen!« Er hörte auch Frequenzen, die das Ohr nicht wahrnehmen konnte, hörte, wie die Zeit ihre Berechnungen anstellte. »Tenor«, prophezeite er.
»Das wäre schön. Tenöre bekommen immer die besten Rollen.«
Im Bett unter der grauen Wolldecke, in solcher Finsternis, dass selbst Gott sie nicht ausspähen konnte, erzählte sie von ihren Ängsten. Sie sprach zu ihrem Mann von ihren unablässigen Zweifeln, dem täglichen Argwohn, der so tief in ihr saß, dass sie ihn schon gar nicht mehr sah. Sie sprach davon, wie sie wegsah, wenn andere sie demütigten, wie sie lächelte bei kleinen Gehässigkeiten, von der Ungewissheit, der Belastung, dass Leute in jeder Minute ihres Lebens alles Erdenkliche in ihr sahen, nur nicht sie selbst. Ihre Furcht, sagte sie, war dicker als ihr Bauch. »Wie wollen wir sie denn nur großziehen?«
»Delia, meine Schöne. Kein Mensch weiß, wie man Kinder großzieht. Und trotzdem bringen die Leute es irgendwie fertig, immer wieder, seit den Anfängen der Menschheit.«
»Nein, ich meine, was sollen sie denn sei«?« Und was nicht?
»Das verstehe ich nicht.« Natürlich nicht. Wie konnte er das?
»Vogel oder Fisch?«
Er nickte und breitete die Arme für sie. Und da es kein Anderswo mehr gab, kam sie zu ihm.
»Müssen wir das wirklich entscheiden?«, fragte er. Sie lachte, den Kopf an seinem Schlüsselbein. »Das Kind hat vier Möglichkeiten.« Sie zuckte zurück, betrachtete ihn aus Armeslänge, verblüfft. »Mathematisch gesprochen. Es kann A sein und nicht B. Oder es kann B sein und nicht A. Es kann A und B sein. Oder es kann weder A noch B sein.«
Drei Möglichkeiten mehr, als das Kind je bekommen würde. Wahlfreiheit und Rasse, das waren tödliche Gegensätze, noch weiter voneinander entfernt als Delia und der Mann, den sie geheiratet hatte. Noch eine andere Rechnung kam ihr in den Sinn: Das Kind würde zu einer anderen Rasse gehören als mindestens einer seiner beiden Eltern. Ob es wollte oder nicht.
Delia brachte das Kind in Philadelphia zur Welt. Das väterliche Haus war groß und noch größer die Erfahrung ihrer Mutter. Der Ehemann folgte, so schnell es seine Lehrverpflichtungen erlaubten. Es war Glück, dass David zur Niederkunft da sein konnte, Ende Januar 1941 in dem Krankenhaus, in dem William praktizierte, eine Dreiviertelmeile von der besseren Klinik, in der Delia einst gearbeitet hatte.
»Er ist so hell«, flüsterte die ehrfürchtige Mutter, als sie ihr Baby zum ersten Mal halten durfte.
»Der wird schon noch dunkler«, prophezeite Nettie Ellen. »Wart's nur ab.« Aber Delias Erstgeborener tat ja nie, was man von ihm erwartete.
David schrieb seinen Eltern und teilte ihnen die Neuigkeit mit, so wie er ihnen nach der Hochzeit geschrieben hatte. Er berichtete ihnen alles von ihrer neuen Schwiegertochter und ihrem Enkel, oder doch fast alles. Schrieb ihnen, wie sehr er sich auf den Tag freue, an dem sie sich alle kennen lernen würden. Dann schickte er den Brief in den immer weiter klaffenden Abgrund. Die Festung Holland war gefallen. Rotterdam, wohin seine Eltern geflohen waren, dem Erdboden gleich. Er schrieb an Bremer, den alten Schulleiter seines Vaters in Essen, erkundigte sich in Andeutungen, ohne Namen zu nennen. Aber es kam keine Antwort, von niemandem.
Die Nazis eroberten den ganzen Kontinent, von Norwegen bis zu den Pyrenäen. Frankreich und die Niederlande existierten nicht mehr. Woche für Woche fiel der Vorhang in einem neuen Theater – Ungarn, Balkan, Nordafrika. Schließlich eine Nachricht, eine hastig geschriebene Notiz, die Bremer via Spanien an der Zensur vorbeigeschmuggelt hatte:
David, ich habe Max und Rachael aus den Augen verloren. Sie sind wieder in Deutschland, wenn sie überhaupt noch irgendwo sind. Sie waren in Schiedam untergeschlüpft, aber ein Nachbar, ein Kollabo-rateur, hat sie verraten, und sie kamen zum Arbeitseinsatz. Auch Ihre Schwester kann ich nicht mehr erreichen; vielleicht ein Zeichen,
Weitere Kostenlose Bücher