Der Klang der Zeit
Grauchen?«
Ruth schnaubt nur. Meine Schwester ist überzeugt, dass auch ich längst auf der anderen Seite stehe, gleich neben dem hellhäutigen Jonah, nur weil ich Abend für Abend mit ihm auf die Bühne trotte, zum Applaus von halb blinden Greisen. Sie begreift nicht, dass ich neben Jonah dunkler aussehe als sie neben mir.
»Was ich darüber weiß? Überhaupt nichts, Ruth. Nicht das Geringste.«
»Ja wo zum Teufel wart ihr zwei denn, als ich ein Kind war? Ihr hättet mich beschützen können. Ihr hättet mir sagen können ...«
Ich weiß keine Antwort. So viel Zeit ist vergangen, ich kann mich nicht mehr erinnern.
»Macht eure eigene Rasse auf«, sagt Jonah mit seinem dicksten Pa-Akzent. »Macht eure eigene Rasse auf.« Ich fahre zusammen, bringe ihn mit einem Zischen zum Schweigen und hoffe nur, unser Vater hat es nicht gehört. Meine Familie löst sich auf, schneller als damals beim ersten Mal. Ruths Worte schweben in der Luft, direkt vor unseren Augen. Über die erste Phase der Anschuldigungen ist sie hinweg, ihre nächste Attacke führt sie unter die Haut, sie geht an die Knochen. Wo waren wir denn tatsächlich gewesen, als sie aufwuchs? Irgendwo unterwegs und sangen. Wer war auf die Idee gekommen, uns schon als Kinder fortzuschicken? Warum habe ich überhaupt keine Erinnerung mehr an sie zwischen ihrem achten und ihrem achtzehnten Jahr? Meine Schwester verschwindet an einen mir unbekannten Ort. Einen, der weit schlimmer ist als der, an dem ich gelebt habe. Derselbe Ort, doch verwandelt durch den Unterschied von ein paar wenigen Jahren.
Sie öffnet den Mund, aber nichts kommt heraus. Sie versucht es noch einmal. Immerhin ein Krächzen. »Lieber Himmel, wie alt das alles klingt.«
»Das war schon alt, als Mama noch jung war.«
»Was haben sie sich dabei gedacht?«
»Ich weiß nicht, ob denken das richtige Wort ist«, sagt Jonah.
Ich atme tief durch. »Wir sollten in der Überzeugung groß werden ...« Aber das ist nicht ganz richtig. »Sie dachten, sie könnten uns so erziehen, dass wir außerhalb von ...«
Die Bitternis in ihr macht sich in einem lauten Lachen Luft. »Außerhalb? Na, wenigstens in dem Punkt haben sie Recht behalten, was?«
Meine Augenbrauen heben sich, aber was sollen sie schon bezwecken? »Ich glaube, ich war schon sieben, als mir zum ersten Mal auffiel, dass Mama und Pa nicht die gleiche Hautfarbe hatten.«
»Du, Joey, stehst außerhalb von außerhalb.« Meine Schwester schüttelt mitleidig den Kopf. Aber in den Falten um ihre Augen Verständnis.
»Wir sollten die Zukunft sein. Wir sollten die Gegenwart überwinden. Wir sollten Rassenunterschiede überhaupt nicht sehen. Nicht einmal das Wort Rasse sollte fallen.«
»Pa wollte das nicht«, korrigiert Ruth.
Jonah ist zu seinem Puzzle zurückgekehrt, zu Fauré. Ruth hält sich die Ohren zu, stößt einen Schrei aus. Als der Schrei verklingt, sage ich: »Sie haben große Hoffnung auf die Zukunft gesetzt. Sie dachten, das alles kann nur wahr werden, wenn wir den Sprung in die Zukunft wagen, mitten hinein.«
»Und da sind wir ja auch gelandet, mittendrin.« Ruth rümpft die Nase. »Weich, warm und übel riechend. Das ist die Zukunft?«
»Eltern haben schon Schlimmeres getan«, sage ich.
»Was hat sie mit ihrem Schwarzsein gemacht? Nachdem sie geheiratet hatte? Nachdem sie uns drei bekommen hatte?«
Schwarzsein, ein Schmuckstück, das sie verlegt hat – ein Schlüssel, ein Notizzettel. Jonah versteht es genau wie ich. »Wahrscheinlich liegt es noch irgendwo hier rum.«
Ruth presst sich den Schädel. »Tja, dass ihr zwei es wieder findet, brauche ich ja wohl nicht zu hoffen.«
Es ist meine Schuld, wenn ich ihr nicht helfen kann. Aber sie ist meine Schwester, jeder Blutstropfen von ihr; sie kann mir nicht entfliehen, ich finde sie überall. Ich taste mich an das eine heran, was ich ihr sagen sollte, auch wenn sie es vielleicht noch so falsch versteht. Ganz gleich, was Ruth daraus macht, ich muss es ihr sagen. Sie hat einen Anspruch darauf.
»Es stimmt schon, in den ersten Jahren hat sie mehr gelacht. Getanzt. Als ob es immer und überall Musik gab, selbst wenn gar keine zu hören war.«
Ruth nickt, zeigt Anerkennung für mein Geständnis. Die Erinnerung an diese Frau gehört keinem von uns. Aber in Ruths kurzen, knappen Kopfbewegungen sehe ich Mama, wie sie leibt und lebt. Sie wird unwillkürlich eins mit unserer Mutter, ihre Reinkarnation, mit jedem Nicken. Sie bewegt sich, wie Mama sich an den
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