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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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eine gute Partie Hufeisenwerfen gespielt hat. Seine schwarzen Hosen, die noch Spuren der Bügelfalte tragen, die braunen Argyle-Socken, die grauen Slipper, der braune Gürtel, das hellblaue Hemd, das weiße Unterhemd, der rostrote Pullover sind ein Echo der Kleider, die Mama ihm vor fünfzehn Jahren gekauft hat. Der Pullover ist nachlässig geflickt, und am Rand der Stopflöcher hängen lange Fäden heraus. Er hat sich in einer Welt eingerichtet, in der es nichts Besseres gibt. Er kommt auf uns zu, die pure Erregung, und er erwartet – nein, er weiß –, dass die Kinder seine Freude an dieser neuen Entdeckung teilen werden. Es kommt nicht oft vor, dass er Fehler in seiner Rechnung macht. Aber wenn Pa sich verkalkuliert, dann im großen Maßstab.
    Er redet mit den Händen. Die Freude sprudelt nur so aus ihm heraus, aus diesem hamsterbackigen Kobold der Naturwissenschaften. An uns, seinen letzten drei Kontakten zur Außenwelt, erprobt er den neuesten, verrücktesten Physikerwitz. »Es ist unglaublich!« Glück und Empörung spielen gleichermaßen auf seinem Gesicht, Kinder derselben Mesalliance. Der alte Herr rüstet sich zu einer Aufführung des Faust. Ihm treten die Tränen in die Augen, als er uns von dieser neuesten Wendung in der Welt der Quantentheorie berichtet. »Die Natur ist nicht unveränderlich in der Zeit. Der Spiegel der Zeit ist zerschlagen!«
    Jonah hebt beschwörend die Hände. »Wir waren es nicht, Vaterherz. Wir haben nichts zerschlagen.«
    Pa nickt und schüttelt zugleich den Kopf. Er ist wie ein Bräutigam, der am Vorabend der Hochzeit die Trinksprüche der Freunde über sich ergehen lassen muss. »Ihr werdet es nicht glauben.« Er hat beide Hände ausgestreckt, als wolle er die unsichtbaren Mächte daran hindern, dass sie die Pointe zu früh verraten. »Das elektrisch neutrale Kaon.«
    Jonah zwickt sich in die Wangen, um sein Grinsen im Zaum zu halten. »Ah ja! Das elektrisch neutrale Kaon. Eine britische Beatgruppe, wenn mich nicht alles täuscht?«
    »Aber natürlich! Eine Rockgruppe!« Unser Vater wedelt mit den Händen, führt jeden Scherz ad absurdum. Er nimmt seine Brille ab und beginnt noch einmal von vorn. »Das Kaon wechselt zwischen Teilchen und Antiteilchen, und man sollte annehmen, dass es umkehrbar in der Zeit ist. Aber das ist es nicht.« Je mehr er sich in die komplizierten Gedanken verliert, desto mehr Schwierigkeiten hat er mit den einfachsten Worten. »Stellt euch das vor, ein seltsames Teilchen, ein antiseltsames Teilchen, das irgendwie die Richtung unterscheiden kann. Das Einzige im ganzen Universum, was den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft kennt!«
    »Das Einzige in deinem Universum.«
    »Wie bitte, Ruth?«
    »In meinem Universum kennt alles den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Alles außer dir.«
    Pa nickt, geht auf sie ein. »Ich will es dir erklären.«
    Ruth ist aufgesprungen. Die Reinkarnation von Mama, nur eine Spur dunkler. Ungeduldiger. »Ich will es dir erklären! Ich habe die Nase voll von Leuten, deren sämtliche Gedanken sich nur um sich selbst drehen.«
    Pa blickt Jonah an, nach seinen Maßstäben der Inbegriff der Laienwelt. »Ist sie sauer?« Der absurde Ausdruck aus seinem Munde, noch dazu mit teutonischem Akzent, hat etwas von einem Big-Band-Leader mit Beatleperücke.
    »Ruthie möchte wissen, ob sie eine Schwarze ist, eine HaliMchwarze, eine Antischwarze oder was sonst.«                                   
    »Scheißkerl.«
    Pa hört es nicht oder tut, als höre er es nicht. Partikel zerfallen, unum-kehrbar, überall im Gesicht meines Vaters. Aber er bleibt der Denker par excellence. Er betrachtet seine Tochter, zu spät, und sieht, was vorgeht. »Was fehlt dir, mein Schatz?«
    Sie ist verzweifelt, elend, den Tränen nahe. »Warum hast du eine Schwarze geheiratet?«
    Sie sehen sich an. Er geht nicht auf den unvermuteten Angriff ein. »Ich habe keine Schwarze geheiratet. Ich habe eure Mutter geheiratet.«
    »Ich weiß nicht, was du in ihr gesehen hast. Aber meine Mutter war schwarz.«
    »Eure Mutter ist, wer sie ist. Als Erstes ist sie sie selbst. Und dann erst etwas anderes.«
    Das Präsens dieses Satzes trifft Ruth wie ein Schlag. Am liebsten würde sie sich in seine Arme flüchten, in die Geborgenheit. »Nur Weiße können sich den Luxus leisten, die Hautfarbe zu übersehen.«
    Pa rudert mit den Armen, spürt an allen Fronten Gefahr. Das ist nicht die Art, wie sein Verstand von Natur aus

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