Der Klang der Zeit
wird. Aber von mir: Ruth glaubt, ich kann ihr zeigen, wie sie den Zugang findet, wie sie hineinschlüpft wie in ein altes Hemd von Mama, das sie in einem Schrank ihrer Träume gefunden hat. Dass ich es ihr verweigere, scheint ihr pure Gehässigkeit.
»Was kann ich dir sagen, Ruth? Ihr Vater war Arzt. Einer von ein, zwei Dutzend in ganz Philadelphia. Umfassender gebildet als Pa. Ihre Familie war wohlhabender als seine. Du weißt, womit sie leben mussten, Ruth. Die Frage, wohin sie gehörten. Was willst du noch von mir hören?«
Ich sage es ihr ja schon, beantworte es ihr ja schon, mit jedem Wort, das ungesagt bleibt. Tiefschwarz. Schwärzer als ihre Mulisöhne überhaupt begreifen können. Schwärze, die ihr aufgebürdet wurde und Schwärze, die sie annahm. Schwarz in der Erinnerung und in der Phantasie. Tag für Tag Verlierer, immer nur nachgeben, immer nur lächeln, zwanzig Gene-rationen Prügel in den Knochen, von denen man krumm ging, selbst wenn man sich gerade einmal aufrecht vorkam. So schwarz, wie es nur die Hellhäutigen kennen. Kein Tag verging, an dem sie es nicht in sich hineinfraß, an dem es sie nicht in ihrem Innersten berührte. Aber in Haut, Haar, Gesichtszügen, in allem Sichtbaren genauso hell wie ihre Mischlingstochter, die sich dafür hasst, dass sie nicht eindeutiger ist.
»Schwarz, Ruth. Sie war schwarz.«
»Schwarz, ganz recht«, bestätigt Jonah. »Einige meiner besten Gene sind schwarz.«
Ruth sagt nichts. Sie wägt die Möglichkeiten ab: Die Wahrheit ist so einfarbig, so einfältig, dass sie nichts damit anfangen kann. Sie muss ein großes Stück zurück in die Vergangenheit und kommt doch der Welt der Zukunft, die unsere Eltern sich ausgemalt hatten, nicht näher als bis zu diesem lächerlichen Bungalow in der Vorstadtwüste von New Jersey, wo keiner von uns leben kann.
»Du hast ja überhaupt keine Vorstellung, wie das ist, Joey. Anderthalb Jahre von den University Heights über den Harlem River und zurück ... Ich sitze in einem Saal voller Betriebswissenschaftler, brave weiße Jungs mit Bürstenhaarschnitt, von denen jeder nur davon träumt, wie er seine Braut über die Türschwelle eines Häuschens in Levittown trägt. Die Wohlerzogenen sehen mich an wie ein geschlechtsloses Wesen, die Kretins geifern, als ob ich eine Sexpuppe zum Aufblasen wäre. Oder fragen mich, warum ich so komisch rede. Ob ich ein Adoptivkind bin. Ob ich aus Persien, Pakistan, Indonesien komme. Oder sie fragen mich nicht, trauen sich nicht, weil sie mich nicht kränken wollen.«
»Sag ihnen, du bist ein Mohr«, meint Jonah. »Das wirkt immer.«
Sie sieht mich an, Tränen in den Augen. Als ob ich ihr helfen könnte. Sie vor Amerika retten oder wenigstens vor ihrem großen Bruder. »Keiner weiß, was er mit mir anfangen soll. Horden von drallen irisch-italienisch-schwedischen Mädels erzählen mir mit einem Grinsen so breit wie ein Scheunentor, wie gut sie sich immer mit ihren Hausmädchen verstanden haben. Aber wenn ich zum Afro-Meeting gehe, sitzt jedes Mal irgendwo eine Schwester, die dumme Anspielungen macht, dass die Weißen jetzt schon ihre Spitzel schicken.« Sie nickt dazu, fragt mich: Kennst du das nicht? Was immer unsere Eltern uns als Bild von uns mitgeben wollten, es muss falsch gewesen sein.
Das sind die Dinge, die sie auf dem College lernt. Jeden Tag dringt sie in ein Viertel ein, das die Flucht ergreift vor ihr und ihrer nonexistenten Nation. Die Weißen, die letztes Jahr noch dort wohnten, sind jetzt schon auf halbem Wege nach White Plains. Die Universität hat sich Mühe gegeben, den Campus aufzuwerten, hat ihn von Marcel Breuer in echt europäischer Moderne ausbauen lassen. Aber auch die brutalsten Betonplatten, die er neben die pseudoitalienischen Arkaden von McKim, Mead & White gesetzt hat, machen nur umso deutlicher, dass das Spiel verloren ist. Bald wird University Heights die Gebäude für einen symbo-lischen Preis an ein »Integrationscollege« verkaufen, für die neuen Be-wohner des Viertels.
Meine Schwester weiß, dass es alles ihre Schuld ist. Ich lege ihr den Arm um die Schulter, die Hand auf dem unverfänglichen oberen Ende des Schlüsselbeins. Zehn Zentimeter oberhalb der Stelle, wo der Polizist hingeschlagen hat. »Ruthie, lass dich doch nicht von denen in den Dreck ziehen. Das hast du nicht nötig.«
»Red doch nicht wie mein Großvater, Joey. Was weißt du denn schon?«
»Joey?«, sagt Jonah. »Der weiß alles. Kennst du nicht seinen Bestseller, Mein Leben als
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