Der Klang der Zeit
oder junge Leute, meist aus der Nachbarschaft.«
»Schwarz oder weiß?« Meine Schwester fragt nur, was die Welt sie fragt. Es ist die einzige Frage, die zählt, drüben in der Bronx, an ihrem College. In den unruhigen Straßen von Harlem. Unserem alten Viertel.
Ich beuge mich auf dem Sofa vor, sitze auf der Kante, damit ich zum Fenster hinaussehen kann. Eine weißere Straße könnte man sich gar nicht vorstellen. Ich überlege, wie es gewesen wäre, wäre ich in einer solchen Umgebung aufgewachsen; ein Vorstadtjunge, unterwegs auf dem Fahrrad zwischen den makellosen Häuserzeilen, schleudere lässig mein Footballei, spiele ohne zu fragen das verlogene Spiel. Nicht einmal, wenn sie gewollt hätten, wäre das hier ein Viertel für unsere Eltern gewesen. Nicht einen einzigen Gang durch diese Straßen hätte ich als Kind überlebt. Selbst jetzt, bei den paar Tagen Weihnachtsbesuch, hat schon längst ein Nachbar mit der Polizei telefoniert. Wenn ich heute Nacht vor die Tür ginge, würden sie mich festhalten und fragen, was ich hier zu suchen habe.
Mir geht durch den Sinn, wie selten Jonah und ich, selbst als wir noch in der Innenstadt wohnten, draußen gewesen waren. Wir blieben zu Hause, hielten uns an Klavier, Radio, Plattenspieler. Mama musste uns mit Gewalt aus dem Haus jagen. Ich zähle ab, wie viele von denen, die uns in unserer Kindheit quälten, Schwarze waren, wie viele weiß, wie viele genauso unbestimmbar wie wir. Wir waren alles, was man in uns sah. »Beides, glaube ich. Die meisten schwarz.«
Ich blicke Jonah an, die einzige echte Autorität. Das eine Jahr Altersunterschied zwischen uns beiden kam uns damals wie eine ganze Epoche vor. Jonah legt sein Puzzle beiseite und singt mit tiefer Gospel-stimme: »›Rot und gelb und schwarz und weiß, vor Gott, da sind sie alle gleich. Jesus liebt die Kinder dieser Welt.‹«
Ruth lacht unwillkürlich. Sie lehnt sich vor und versetzt ihm einen Boxhieb in den Unterbauch, der sich nach dem Singen wieder entspannt. »Du bist ein blöder Arsch, weißt du das?«
Es soll lustig sein. Er blickt gelassen zu ihr auf. Ich mache hastig weiter, bevor ein Unglück geschieht. »Sie hat selbst auch immer noch Unterricht genommen. In Columbia, als wir noch klein waren. Ein paar Stunden hatte sie sogar bei Lotte Lehmann.«
»Und das soll was Besonderes sein?«
Ich lasse mich in die Polster sinken, mit offenem Mund. »Lotte Lehmann?«, mehr fällt mir nicht ein. Ein Name, der mir geläufiger ist als der meiner Blutsverwandten. »Du weißt nicht, wer ...«
»Ach was«, sagt Jonah, rappelt sich auf und reckt sich. »Nur so eine bescheuerte Operntussi.«
Ruth ignoriert ihn. Neuerdings für sie die beste Art, mit ihm zurecht-zukommen. »Wieso hat Mama sich für klassische Musik interessiert? Könnt ihr mir einen Grund nennen, warum sie auf so eine ...« Ruth zögert, will sich nicht auf einen Krieg einlassen, dessen Ausgang ungewiss wäre. »Wie gut war sie als Sängerin?«
Wie kannst du so etwas fragen?, möchte ich antworten, aber stattdessen kommt: »Weißt du das nicht? Du hast sie doch zehn Jahre lang fast jeden Abend gehört!« Die Worte klingen heftiger als ich gewollt hatte. Ruth nimmt sie wie eine Ohrfeige. Ich setze noch einmal neu an, sanfter. »Sie war ...« Die Stimme, an der ich jede andere messe. Der Klang, den ich mit meinem eigenen nachahmen wollte. Eine Fülle, die nicht einmal Jonah hervorbringen kann, eine, die dadurch entstand, dass sie alles aufgab. »Ihre Stimme war warm. Hoch und klar, aber mit viel Körper. Nichts Sklavisches daran.« Das Wort kommt heraus, bevor ich es unter-drücken kann.
»Die Sonne, die über einem Lavendelfeld aufgeht«, sagt Jonah. Und da weiß ich wieder, warum ich alles für ihn tun werde, allezeit.
Beinahe wäre Ruth damit zufrieden gewesen. Aber sie ringt noch mit einem größeren Dämon, einem, der nur umso hungriger wird, je mehr die anderen gefüttert werden. »Wie war sie?«
Selbst Jonah blickt bei dieser Schärfe in ihrer Stimme auf. Ich weiß genau, was sie von uns beiden hören will. Aber ich kann ihr die Mutter, die sie braucht, nicht geben. »Als wir klein waren, ist sie mit uns durchs Zimmer gegangen und hat dabei unsere Beine auf ihre eigenen Füße gestellt. Jeder Schritt, den sie machte, war ein Ton eines Lieblingslieds. Als wäre das Lied, das sie sang, der Motor dieser großen Gehmaschine.«
Das Gesicht meiner Schwester ist wie ein zerlaufendes Aquarell. »Daran kann ich mich erinnern. ›I'm tram-pin ' .
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