Der Klang der Zeit
I'm tram–pin'.‹«
»Sie hat kleine Sterne aus Silberpapier ausgeschnitten und an unsere Zimmerdecke geklebt und hat uns damit die Sternbilder beigebracht. Sie ließ uns Bohnen und Kartoffeln in Wassergläsern ziehen. Sie rettete Spatzen, wo immer einer in Not war. Wir hatten stets eine Pipette mit Dosenmilch dabei, Labsal für jedes geschundene Geschöpf zwischen Broadway und Amsterdam Avenue.«
»Uns Jungs hat sie mit einem dicken Nagelknüppel geprügelt«, gesteht Jonah. »Als du kamst, war sie schon ein gutes Stück sanftmütiger geworden.«
»Das ist nicht wahr«, mache ich mit. »Höchstens eine Rute mit Reißnägeln war es.«
Mit einer angewiderten Handbewegung steht Ruth auf und will gehen. Ich halte sie fest und ziehe sie zurück. Sie leistet ein wenig Widerstand, doch dann setzt sie sich wieder. Meilen im Umkreis gibt es keinen Ort, wohin sie kann.
Ich streichle ihren verletzten Arm. »Wenn sie in der U-Bahn ihre Münze in das Drehkreuz steckte und der Aufseher sie schief ansah, konnte sie sich tagelang grämen. Aber sie war zäher als Jesus. Sie konnte länger den Atem anhalten, als sie einem von uns böse sein konnte. Sie freute sich immer, wenn Leute im Haus waren. Jedenfalls wenn sie sangen.«
Aber mit all diesen Informationen kann Ruth nichts anfangen. Schließlich fragt sie: »Wie schwarz war sie?« Sie blickt mir fest ins Gesicht und wird keine Lüge verzeihen.
Schwarz ist jetzt der korrekte Ausdruck. Ruth hat ihn sich angewöhnt, nicht lange nachdem sie den jungen John Lewis beim Marsch auf Washington hatte reden hörte. Neger sagen jetzt nur noch Kompromissler, Beschwichtiger, Baptistenprediger. Wer schwarz sagt, zeigt, dass es ihm ernst ist, und nach den Vorfällen des Jahres in Harlem, Jersey City und Philadelphia hat sich der Ausdruck durchgesetzt. Das Land erfindet für seinen Makel alle paar Jahre ein neues Etikett, wie ein Lügner, der seine Ausrede immer weiter verfeinert. Ich bin mir nicht sicher, wie der derzeit korrekte Ausdruck für einen Mulatten lautet. Im nächsten Jahr wird es ohnehin wieder ein anderer sein.
Jonah streife ich nicht einmal mit meinem Blick. Seine Antwort kenne ich. »Wie schwarz?« Ein Tropfen genügt, möchte ich ihr sagen. Das ist doch die Regel. Keine Skala, keine Bruchteile, kein wie viel. In dieser Frage duldet das Land keine Abstufungen. Da sehen Amerikaner nur einen Farbton, nur ein Entweder-oder. Das weiß Ruth, seit sie zehn war. Aber jetzt ist sie daraufgekommen, dass es doch mehr zu wissen gibt. Dass es eine andere Skala gibt, eine, die auch die Graustufen verzeichnet. Ich sehe sie an. »Was genau willst du wissen?«
»Was meinst du wohl, was ich wissen will? Sei doch kein solcher Dummkopf, Joe.«
»Dummkopf?« Ich ziehe meinen Arm zurück. »Du sitzt hier und stellst solche Fragen nach deiner eigenen Mutter, und dann nennst du mich .. .«
Ruth wendet sich ab. Ihr Hals hat den Farbton von schönstem polierten Walnussholz. Sie macht eine Handbewegung, als würfe sie eine Angel aus. »Ja, schon gut. Tut mir Leid.« Mit mir streitet sie sich nicht. Ich bin der Friedensstifter, der Vermittler, derjenige, der Brücken baut, ich bin das, was sie mich – noch – nicht nennt. Ich fasse nach ihren schlanken Fingern. Sie dreht sich wieder zu mir hin, sieht mich mit der Andeutung eines Kopfschütteins an, verletzt, verwirrt. Sie braucht mich, ich muss auf ihrer Seite sein. So wie früher, sagt ihr Blick.
Jonah hört mit dem Summen auf, doch als er redet, klingt es fast wie Gesang. »Meinst du, sie hat im afrikanischen Busch gelebt, bevor du zur Welt kamst? Meinst du, sie hat Kutteln gekocht und Maisbrot gebacken?«
Sie sieht ihn nicht einmal an. »Wer hat denn dich gefragt, weißer Mann? Wurmt dich das, wenn ich danach frage? Das stinkt dir, hm?«
Wurmt, stinkt: Meine Schwester ist wie immer auf der Höhe der Zeit. Wenn nicht sogar ihrer Zeit voraus. Oder jedenfalls mir voraus. Ein Teil von mir, der weiße, der es gern ordentlich hat, möchte nicht, dass Pa uns hört. Aber ich werde ihr nicht den Mund verbieten; ich werde nicht leiser sprechen. Wir sind mit Mama gestorben; es gibt hier niemanden mehr, den ich schützen muss.
Meine Schwester senkt bittend das Haupt, und schon bin ich wieder ihr Bruder. Ruth braucht etwas von mir, was ihr kein anderer auf der Welt geben kann. Sie glaubt, in den paar Jahren, die ich mehr als sie mit unserer Mutter gelebt habe, habe ich gelernt, was Schwarzsein ist. Sie weiß, dass sie es von Jonah nicht erfahren
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