Der Klang der Zeit
Abenden bewegte, an denen unsere Familie sang, fünf Stimmen, von denen jede auf ihre eigene Entdekkungsfahrt ging.
Dann hält Ruth inne. »Was ist mit ihr geschehen?« Sie verstummt. Einen Takt lang verstehe ich sie falsch. Das ist die Frage, die ich immer ihr stellen wollte, hundertmal jedes Jahr seit unsere Mutter tot ist. Ich habe mir ausgemalt, wie ich Ruth frage, die es alles von Angesicht mit ansehen musste, aus nächster Nähe mit den Augen einer Zehnjährigen, Ruth, die es gesehen hat, wie Mama in dem Haus bei lebendigem Leib verbrannte. Aber dann begreife ich: Sie will fragen, was mit ihr geschah, bevor das mit ihr geschah.
»Ich glaube ...« Schon nach der dritten Note muss ich pausieren. Atemtechnik war von Anfang an meine schwache Seite. Jonah singt ellenlange Phrasen, ohne auch nur einmal abzusetzen. Ich schnappe schon nach anderthalb Takten eines Moderatos nach Luft. »Ich glaube, es hat sie erschöpft, nach und nach. Von allen Seiten kamen die Schläge, in jeder wachen Minute, selbst wenn keiner etwas sagte. Sie war nicht einfach nur schwarz, es war schlimmer. Mauern einreißen, heiraten: Ein größeres Verbrechen konnten zwei Leute nicht begehen. Einmal hat eine Frau sie angespuckt; wir wollten zum Zahnarzt und kamen gerade aus dem Aufzug. Mama wollte uns einreden, es sei ein Versehen gewesen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ich denke mir, es war tatsächlich ein Versehen, Joey«, sagt Jonah. »In Wirklichkeit wollte die Frau dich anspucken.«
»Sie muss sich anspucken lassen und noch vor uns so tun, als sei nichts dabei. Das hat sie ausgelaugt, im Laufe der Jahre. So viel Scheiße konnte nicht einmal sie ertragen.«
»Joey hat ›Schei-ße‹ gesagt«, ruft Ruth in einem Singsang. Das beste Weihnachtsgeschenk, das ich ihr machen konnte. Und dieses Aufblitzen von Glück ist das Beste, was ich von ihr bekommen konnte, und auch das Beste, was ich je wiederbekommen werde.
»Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, als wir älter wurden. Wie kann man es beschreiben, Jonah? Resigniert. Als hätte sie sich nicht vorstellen können, dass es so hart würde. Sie konnte ja nicht einmal in einen Kleiderladen mit uns gehen und uns Sachen für die Schule kaufen, ohne dass der Hausdetektiv kam und sich dazustellte. Uns fortzuschicken war die einzige Möglichkeit, die noch blieb.«
Ruths Gesicht glüht bei dieser Vorstellung. Alle Schrecken, von denen sie hört, geben ihr Recht. Sie lehnt sich zurück, erleichtert von der Bestätigung, genießt diesen Bericht über die Schwärze unserer Mutter, den ersten Beweis für den Hautton, in dem Ruth sich ihr nahe fühlen kann. Sie sieht mich mit ihren großen braunen Augen an. »Wie viele Geschwister hatte sie? Alles in allem?«
Ich blickte zu Jonah. Er hebt die Hände, senkt die Augenbrauen, ganz Bajazzo, Inbegriff unschuldiger Ahnungslosigkeit.
»Wo wohnen sie?«
Jonah erhebt sich. Mit steifen Bewegungen trollt er sich zur Küche, wo noch ein Rest von unserem Weihnachtsessen steht, Hühnchen süßsauer. Ruths Blick folgt diesem unvermittelten Aufbruch, und eine Sekunde lang sehe ich es in ihren Zügen: Verlass mich nicht. Was habe ich dir getan ?
»Die meisten immer noch in Philadelphia, nehme ich an. Einmal ist sie mit uns hingefahren, zu einer Verabredung mit ihrer Mutter. Gleich nach dem Krieg. Wir haben uns in einem Café getroffen. Eigentlich sollten wir uns nicht sehen. Mehr weiß ich nicht.«
Jonah kehrt aus der Küche zurück, kaut Huhn, das er direkt aus der weißen Pappschachtel fischt. Ruth würdigt ihn keines Blickes. Sie spricht jetzt nur zu mir. »Das war das einzige Mal?«
»Ihr Bruder war bei der Totenfeier. Das weißt du doch noch.«
»Meine Güte! Was sind wir für jämmerliche Gestalten. Kennen nicht mal die eigenen Großeltern.«
Der Tonfall vertreibt Jonahs Buddhalächeln. »Da müsstest du Pa fragen«, sage ich.
»Ich frage ihn seit zehn Jahren. Alle paar Monate versuche ich es neu, und die einzige Antwort, die ich bekomme, ist ein Grinsen. Ich habe es schon auf alle erdenklichen Arten versucht und ernte nie etwas anderes als Ausflüchte und Geschwätz. ›Du kennst deine Großeltern längst. Du wirst sie erkennen, wenn du sie wieder siehst.‹ Der Mann ist draußen im Weltall. Wir drei könnten für zwanzig Jahre verschwinden, und es würde ihm erst auffallen, wenn wir zurückkommen. Der kümmert sich nicht die Bohne drum, wie es uns geht und was aus uns wird. Der lebt nur für seine Spinnereien. ›Zeit ist kein Fluss. Es gibt kein
Weitere Kostenlose Bücher