Der Klang der Zeit
Nacheinander, nur Gleichzeitigkeit‹. Was ist denn das für ein arrogantes, sophistisches, pseudointellektuelles ...«
Jonah stellt seine Schachtel mit Hühnchen süß-sauer ab. Vielleicht braucht er beide Hände, um mit ihr zu reden. Vielleicht hat er auch einfach genug davon. »He, Ruthie.« Diesmal amüsiert das Tabuwort sie
nicht. »He, Kleines.« Irgendwie glaubt auch Jonah daran, dass jedes Jetzt für immer gegenwärtig bleibt. Er setzt sich zu uns auf die Couch, auf Ruths andere Seite. Er gibt ihr einen Schubs mit der Schulter, ein altes Spiel zwischen uns, ein Mannschaftssport, bei dem die beiden Brüder ihre kleine Schwester wie einen Volleyball zwischen sich hin– und herhüpfen lassen, ein Metronom. Es war ein Spiel, das uns früher endlos lange beschäftigen konnte: Langsam steigerten wir die Geschwindigkeit, Jonah gab Tempi vor, ich hielt den Takt, Ruth kicherte in diesem lebensgroßen Accelerando, bis das Kommando »Prestissimo!« kam. Jetzt gibt Jonah ihr einen kleinen Stoß, und für Ruth kommt es so unerwartet, dass sie ins Kippen kommt. Also gebe ich den Gegenstoß, aber schon bei dieser ersten Runde spüren wir die Anspannung. Sie spielt nicht mehr. Jonah kommt bis fast zum Andante, bis er einsieht, dass er das Spiel nur aufgeben kann, für immer. Auch auf seinem Gesicht sehe ich, noch kürzer als zuvor bei Ruth, eine Angst aufblitzen: Eher tue ich dir weh als dass ich mich fortschicken lasse.
Ruth legt uns beiden die Hand auf den Rücken, ein letzter verstohlener Gruß, eine Solidarität zwischen denen, die nirgends hingehören. Auch wenn wir noch so wenig wie Geschwister aussehen oder uns so fühlen, muss sie uns doch anerkennen, die Einzigen, die wenigstens innerlich die gleiche Farbe haben wie sie. Sie klopft mir auf die Schulter: Nichts Schriftliches, nur ein rascher Versuch, all das hinter sich zu lassen. Aus dem Klopfen wird ein Riff, ein Schlag pro Silbe – der Schwung der unwiderstehlich punktierten Motown-Rhythmen, das Einzige, was sie dieser Tage hört. »Wie ist sie auf die Idee gekommen, sich mit Musik abzugeben, die ... die ...«
»Die nicht zu ihr passte?« Träge stellt Jonah die Herausforderung in den Raum. Wenn sie sich mit ihm streiten will, dann kann sie das haben.
»Stimmt.« Forschheit, geboren aus Furcht. »Stimmt. Die nicht zu ihr passte.«
»Zu wem dann? Wem gehört diese Musik, Kleine?«
»Weißen deutschen jüdischen intellektuellen Männern. Leuten wie dir und Pa.«
Pa hinten in seinem Arbeitszimmer glaubt, sie habe gerufen. Mit aufgesetzt leidgeprüftem Ton ruft er zurück: »Ja, was ist? Was gibt es schon wieder?«
Jonah blickt Ruth abschätzig an, zittert beinahe dabei. Ein Brahms–Vibrato. »Du konntest singen, bevor du sprechen konntest. Du konntest Noten früher lesen als Buchstaben. Glaubst du, nur weil jemand
unseren Ur-Ur-Urgroßvater auf ein europäisches Schiff geschleppt hat, gehen uns tausend Jahre Musikgeschichte nichts an?«
»Ja, schon gut. Reg dich ab.«
»Was meinst du denn, was für eine Musik sie stattdessen –«
»Reg dich ab, habe ich gesagt. Halt dein –« Sie bricht ab. Sie wird es nicht zum Äußersten kommen lassen. Nicht in diesen Ferien. Nicht in diesem Jahr. »Dann sag mir eines.« Sie wendet den Blick von Jonah ab, und das bringt sie wieder zu mir. »Warum hat sie aufgehört zu singen?«
Ich fahre zusammen. »Was redest du denn da? Sie hat nie aufgehört zu singen!«
»Wenn sie das Spiel schon so weit mitgemacht hatte, wenn sie wirklich so gut war, wie ihr sagt, wenn sie Unterricht genommen hat ... Wenn sie sich all das angetan hat, warum hat sie dann auf halbem Wege aufgehört? Warum ist sie nicht Sängerin geworden?«
»Sie ist Sängerin geworden«, sagt Jonah.
»Kirchen. Hochzeiten.« Abschätzige Worte im Mund meiner Schwes-ter. Wenn dir das nichts bedeutet, möchte ich sagen, wirst du deine Mutter niemals verstehen. »Ich spreche von Singen als Beruf. Auftritte, so wie ihr zwei.«
»Das dürfte unsere Schuld gewesen sein. Wir Kinder kamen, und damit war es mit den Auftritten vorbei.« Zum ersten Mal wird mir klar: Unseretwegen konnte sie keine Karriere machen. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie das wirklich als Verlust empfunden hat. ›Der Lohn ist die Sache selbst.‹ Das hat sie immer gesagt.«
»Unsinn. Natürlich hätte sie den Verlust gespürt.« Doch bevor Ruth sich darüber empören kann, kommt Pa aus seiner Studierstube getappt, grinsend, ein bleicher, rundlicher Feriengast in den Bergen, der gerade
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