Der Klang der Zeit
denkt. Sein ganzes Gesicht ist ein einziger Widerspruch, schon bevor er ihn ausspricht: »Ich bin kein Weißer; ich bin Jude.« Seine Hände illustrieren es, fliegen auf wie ein ganzer Schwarm von Erklärungen. Aber er ist weise genug und fängt sie im Fluge ab. Er geht lieber zu Fuß durch diese Landschaft, immer die nächste Deckung im Blick. »Abraham verband sich mit einer schwarzen Konkubine. Joseph ...« Erweist auf mich, als sei ich der Hüter dieses Namens. »Joseph ehelichte eine ägyptische Priesterin. Moses lehrte, der Fremde, der zu uns kommt, den wir in unsere Familie aufnehmen, der wird bald wie ein in unserem eigenen Lande Geborener sein. Und Sa-lomo, lieber Himmel! Salomo heiratete die Tochter des Pharaohs!«
Ich erkenne diesen Mann nicht wieder. Ganze Generationen, längst zerstoben, Vorfahren, von deren Existenz ich nicht einmal wusste, erheben sich aus ihren kieselbestreuten Gräbern. Mein Vater, überzeugter Anhänger von nichts, der Mann, dessen einziger Glaube der Logik galt, verwandelt sich vor meinen Augen in einen Exegeten der Thora. Ruth schweigt, und ich kann dieses Schweigen nicht ertragen. »Goodman!«, rufe ich. »Goodman und ... Schwerner.« Ich bin selbst überrascht, dass mir die Namen im Gedächtnis geblieben sind, obwohl die beiden ja erst in diesem Sommer umgekommen waren – dem Sommer der Freiheit, als Jonah und ich in Wisconsin sangen.
»Was ist mit denen?«, fragt Ruth.
»Zwei Weiße. Zwei Juden, genau wie Pa. Zwei Männer, die diesen ... Luxus, wie du es nennst, nicht kannten.«
»Was weißt du denn schon von Luxus, Joey? Diese Männer waren nicht älter als ihr. Eure Generation, aber sie standen da draußen, an vor-derster Front. Chaney musste sterben, weil er schwarz war. Die beiden anderen standen nur in der Schusslinie.«
Laute drängen sich in meiner Kehle, aber ich kann sie nicht formen.
»Die Juden können uns nicht helfen«, sagt Ruth. »Dieser Kampf geht sie nichts an.« Ihre Stimme leugnet alles, was sie von Pa so gern bekäme. Und was er ihr doch nicht geben kann.
»Uns geht dieser Kampf nichts an? Uns?.« Unser Vater ist hart an den Rand des Unumkehrbaren gekommen. »Wenn ein einziger Tropfen Blut einen Schwarzen ausmacht, dann sind wir allesamt Schwarze.«
»Nicht alle.« Meine Schwester sinkt in sich zusammen. Zehn Jahre alt. Gebrochen. »Nicht alle von uns, Pa. Du nicht.«
So verbringt meine Familie das Weihnachtsfest 1964. Unser letztes Weihnachtsfest, möchte ich sagen, aber das Wort bedeutet nichts. Denn aus jedem Letzten entwickelt sich doch ein Nächstes. Und selbst das Allerletzte hält für immer.
MEIN BRUDER ALS FAUST
Der Ruhm holte Jonah ein, als er vierundzwanzig war. Mir kam es vor, als ob er schon seit Jahrzehnten sang. In Wirklichkeit war er nach jedem Maßstab außer dem seiner Kunst noch immer ein Kind.
Diese Kunst stand nun auf sicherem Fundament. Von jedem seiner Lehrer hatte er einen Stein dafür mitbekommen. Jonah hatte das Geschick, frisch zu wirken wie vor fünfzehn Jahren, als er zum ersten Mal in das Zitatenspiel unserer verblüfften Eltern einstimmte. Er hatte noch immer etwas Erstauntes im Blick, wenn er vor die beständig größer werdenden Scharen von Zuschauern trat, Leute, die erzählen gehört hatten, dass sich etwas Bemerkenswertes tat. Er sah sich im Saal um, als werde er gleich die Platzanweiserin fragen, wohin er denn gehen müsse. Ich griff in die Tasten, und wie verwundert sang er seinen ersten Ton.
Und irgendwie überzeugte Jonah sein Publikum jedes Mal neu davon, dass auch er die Reinheit seines Tons erst an diesem Abend entdeckte. Seine Miene hellte sich auf, überrascht von dem wundersamen Vorfall. Der ganze Saal hielt die Luft an, Zeuge dieser Geburt. Es war ein frommes, künstlerisches Täuschungsmanöver, ganz im Dienste der Musik. Seht her, ich kann fliegen! Vier Dutzend mal im Laufe eines Jahres spielte er das. Und jedes Mal staunte ich neu.
Seine raschen Tonfolgen standen reglos in der Luft, hielten mitten im Fluge inne, jede Note hörbar, eine Folge von Momentaufnahmen – eine Kugel, wie sie eben eine Spielkarte durchschlägt, oder die Korona von Milchspritzern im Augenblick, in dem das Tröpfchen auf die Oberfläche trifft. Er hatte jetzt mehr Kraft, aber die Töne waren noch immer so messerscharf, er hätte ein Tuch damit durchtrennen können. Er war hinter das Geheimnis der Tongebung gekommen, von dem alle seine Lehrer gesprochen hatten und womit jeder etwas anderes gemeint hatte.
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