Der Klang der Zeit
wollte, dass ich das Vorspiel so allmählich entfaltete, dass das Publikum den Choral ganz vergaß bis zu seinem nächsten schockierenden Einsatz. Wir tauschten die Rollen, einmal führte der eine die Melodie weiter, dann wieder der andere. Seine neun schlichten Phrasen glitten über meine kunstvollen Zwischenspiele wie Gletscher über einen vergessenen Kontinent.
Nach dem eisigen Bach kamen unvermittelt unsere drei Ohrwürmer von Charles Ives. Wir nahmen sie rasant und schroff, ganz im Stil der Neuen Welt. Aus dem Letzten, »Majority«, machte er eine komische Nummer. Bis das Publikum sich von dem Schock erholt hatte, war es schon mitgerissen von der ausgelassenen Stimmung. Jonah spielte die Rollen dieser Stücke so perfekt, dass wir sogar Lacher und beifällige Pfiffe ernteten, als wir ans Ende unserer nostalgischen Parade kamen.
Dann sprinteten wir zum Finale und schickten unsere Zuhörer beschwingt nach Hause. Es sollte noch eine Shownummer kommen, um zu zeigen, dass er auch das konnte, und damit wenigstens ein Stück dabei war, das wir noch nicht anderswo vorgetragen hatten. »Gut für die Moral, Giuseppe. Wir müssen doch dafür sorgen, dass du in Form bleibst.« Gemeinsam arrangierten wir »Fascinatin' Rhythm« und putzten es mit allen Zitaten heraus, die wir unsere Eltern je als Kontrapunkt zu diesem abgedroschenen Schlager hatten singen hören. Als besonderer Gag kam ein gleichmäßiges Accelerando hinzu, anfangs so langsam, dass keiner merkte, was wir vorhatten, doch als wir beim letzten Vers angelangt waren, wirbelte Jonah in solchem Tempo durch die Synkopen, dass es schon ein Wunder war, wie seine Lippen immer noch die Silben formen konnten. Aus schierer Nervosität trieb ich ihn sogar noch mehr an als vorgesehen. Aber als der Applaus rauschte, warf Jonah mir ein dankbares, wenn auch benommenes Lächeln zu.
Zum Abschluss sang er »Balm in Gilead«. Das Publikum wünschte sich als Letztes ein luftiges Bravourstück, etwas Fremdes, Schwieriges, Atemberaubendes. Stattdessen sang er ihnen das einfachste Lied, das er je singen sollte, nicht zu hoch, nicht zu tief, genau da wo die Stimme am kräftigsten war. Ich fragte mich, wie er auf dieses Lied verfallen war. Mama hatte es gesungen, als wir noch klein waren, aber auch nicht häufiger als eine Million anderer. Erst beim Konzert ging es mir auf. Er sang dieses Lied für Ruth. Aber Ruth war nicht da. Pa saß in der Mitte der ersten Reihe, neben sich die duldsame Mrs. Samuels. Ruths Sitz auf der anderen Seite war leer, und nur ich wusste, wie sehr dieser leere Platz ihn enttäuschte. »Es gibt eine Salbe in Gilead, der macht die Geschlagenen gesund.« Er sang es zunächst zögernd, als wolle er sehen, ob die Botschaft immer noch stimmte. Beim zweiten Vers schien das Urteil noch offen. Aber er schloss an einem Ort, an dem jedes Urteil unmöglich gewesen war, und sein Singen selbst war das einzige Indiz dafür, was dieser Balsam sein konnte.
Stiller hätte es nicht enden können, einfacher nicht beginnen. Donnernder Applaus erfüllte den Saal, noch bevor mein letzter Akkord verklungen war. Eine Zugabe war nicht vorgesehen – Jonah wollte das Schicksal nicht herausfordern. Und erst als der Applaus nachließ und wir allein auf der unerbittlichen Bühne standen, flüsterte Jonah: »Dow-land?« Ich nickte, obwohl ich gar nicht begriff, was er fragte. Zum Glück kündigte er es auch dem Publikum an, sodass ich wusste, was von mir erwartet wurde. Und wieder einmal stand die Zeit still, wie jedes Mal, wenn mein Bruder davon sang.
Jonahs Debüt muss eines der seltsamsten gewesen sein, die New York je erlebt hat. Ich hätte es gewagt genannt, hätte ich geglaubt, dass er wusste, was er tat. Aber er hatte einfach nur die Lieder ausgesucht, die er gern singen wollte.
Als wir uns zum Abschluss verneigten, sah ich Lisette Soer ganz hinten im Saal. Man kann keine Gesichter erkennen, wenn das Rampenlicht einem direkt in die Augen scheint, aber ich war mir sicher, dass sie es war. Sie applaudierte nicht. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und mit der anderen, vor der Brust, machte sie das Victory-Zeichen. Falls Jonah sie gesehen hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
Hinter der Bühne war die Hölle los. Als wäre ich in einen Dokumentarfilm über mich selbst geraten. Es war wie ein Querschnitt durch alle Jahre unseres Lebens, für jede Stufe unserer Entwicklung war ein Vertreter gekommen. Ein Fremder schüttelte mir die Hand und pries begeistert mein Spiel, und
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