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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Er traf immer den Ton. Es gab kein Schwanken, nie hatte ich das Gefühl, dass ich mit meinem Spiel eine Schwäche auffangen musste. Selbst in der höchsten Lage seiner Stimme konnte er den Ton mühelos taktelang halten. Und die Wärme umschmeichelte die Ohren wie eine sanfte Ver-traulichkeit, das Flüstern eines Freundes, den man ganz vergessen hatte.
    Vielleicht ist Brillanz nichts weiter als Routine. Vielleicht kann auch die verderbte Seele noch einen Heiligen spielen. Wer weiß denn, wie wir Anteilnahme hören, wie wir Trost erkennen? Aber all diese Dinge vernahm man, wenn Jonah sang, selbst wenn er in Sprachen sang, die er gar nicht verstand. Im Singen bekannte er sich zu allem, was er im Sprechen weit von sich wies. Eine Stunde lang schuf mein Bruder aus drei Oktaven etwas Göttliches.
    Im Februar 1965 erschossen drei Schwarze Malcom X, nur ein paar Häuserzeilen von der Stelle, wo Pa uns Mandelbrot zu essen gegeben und das Geheimnis der Zeit erklärt hatte. Am Abend des Mordes traten wir in Rochester im Staate New York auf. Als Tausende von Selma nach Montgomery marschierten, fuhren wir von East Lansing nach Dayton. Am Abend, an dem Rochester in Flammen aufging, waren wir in St. Louis. Als Jacksonville brannte, sangen wir in Baltimore.
    An jedem dieser Abende setzte Jonah Pas Geheimnis in die Tat um. Verlasse die Erde mit unvorstellbarer Geschwindigkeit, und du kannst in die Zukunft eines anderen springen. Die Schönheit seiner Musik kam damals daher, dass er nichts außer Schönheit zuließ. Solange er sang, gab es nichts anderes.
    Ich hätte ewig so weiterleben können – Auftritte an Universitäten, die uns aus Fördergeldern bezahlten, Provinzstädte, die sich einen Namen in der Kulturszene machten, indem sie erstklassige neue Talente für drittklassige Gagen engagierten. Mir reichte das. Solange wir Abend für Abend auftreten konnten, brauchte ich nichts anderes. Aber Jonah wollte mehr. Wenn er auf der Bühne stand, konnte er singen:
     
    Ah me, how scanty is my store!                                 
    Yet, for myself, I'd ne'er repine,                               
    Tho' of the flocks that whiten o'er                            
    Yon plain one lamb were only mine.                      
     
    Ach ja, wie wenig hab ich doch!                        
    Und würde dennoch nichts vermissen,            
    Ja selbst, wenn aus der ganzen Herd'
    auch nur ein Lämmchen meines war'.
     
    Aber im Alltag entging seinem Adlerauge nicht das kleinste Detail der Musikszene. Überall kamen Karrieren in Gang. Andre Watts, noch nicht einmal zwanzig, trat mit Bernstein in der New Yorker Philharmonie auf. »Himmel, Muli. Was hat er denn, was du nicht hast?«
    »Feuer, Kraft, Leidenschaft, Tempo, Schönheit, Tiefe. Aber abgesehen davon spiele ich genau wie er.«
    »Der ist auch ein Halbblut. Mutter Ungarin. Erzähl mir doch nicht, dass du mit dem nicht mithalten kannst. Was der kann, kannst du schon lange.«
    Nur nicht fliegen. Aber Jonah war ja immer überzeugt, dass jeder fliegen kann, wenn er sich nur traut von der Klippe zu springen.
    Ganz oben auf der Liste von Karrieren, die er verfolgte, stand Grace Bumbry, gerade nachdem sie als »schwarze Venus« in Bayreuth Schlagzeilen machte. Wir sahen sie in einem Interview, das sie dem deutschen Fernsehen über den Rummel in Bayreuth gab. »Himmel, Muli. Sie spricht besser Deutsch als wir beide zusammen.« Jonah hängte sich ein umwerfendes Foto von ihr in die Schranktür. »Endlich mal eine Operndiva, die so sexy ist wie die Rollen, die sie singt. Carnegie mit fünfundzwanzig. Beim Met-Debüt achtundzwanzig. Ich habe noch vier Jahre, Joey. Vier Jahre, sonst gehöre ich zum alten Eisen.«
    Aber diese betörende Frau war meilenweit entfernt von jenen, die Jonah im wirklichen Leben anzogen. Sie war das genaue Gegenteil derjenigen, deren Bild er bei jedem Auftritt beschwor, um die Stellen, bei denen Härte gefordert war, bis zur Dissonanz zu treiben. Seit dem Bruch mit Lisette blieben die Partytüren für uns verschlossen, und wir arbeiteten so hart wie seit dem Wettbewerb um die neue Stimme nicht mehr.
    Er zog sich ganz in sich zurück, verfeinerte, feilte, polierte, arbeitete an seiner Rache mit dem einzigen Mittel, das er hatte.
    Aber so groß der Hunger in ihm auch war, wusste Jonah doch, dass es nicht gut war, Mr. Weisman zu

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