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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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drängen. Unser Agent kannte das Musikgeschäft besser, als wir es je kennen würden. Er wusste, wie man ein Gerücht in die Welt setzte und mit wöchentlichen Dosen nährte. Immer neue Engagements kamen. Wir sangen in Städten, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie uns auf die Bühne ließen. Wir traten in Memphis auf, tiefer im Süden, als wir je gewesen waren. Noch als wir schon in den Kulissen standen, war ich mir sicher, dass das Konzert in letzter Minute abgesagt würde. Als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, spähte ich hinunter in den Saal, um die Hautfarbe der Zuhörer zu sehen. Es war dieselbe Farbe wie immer.
    Von Memphis ging es nach Kansas City und von da durch Iowa nach St. Louis. Wir schlenderten die Beale Street hinunter, wo der Blues als Baby laufen gelernt hatte. Die Straße war kurz und künstlich – zwei Häuserblocks aus lauter Musikkneipen, und alles sah wie ein Freilichtmuseum aus, das Williamsburg der einzigen echt amerikanischen Kunst.
    Wie Amerika, mussten auch wir immer wieder neu entdeckt werden. Mr. Weisman, ein geduldiger Dirigent, der ein langes Crescendo aufbaute, führte uns immer näher an unsere Heimatstadt heran, bis schließlich der große wohl inszenierte Auftritt kam. Über Monate hinweg bereitete er alles für unseren Durchbruch vor. Für Anfang Juni buchte er die Town Hall. Wir mussten es aus eigener Tasche bezahlen –der Erlös der Eintrittskarten würde nur einen Teil der Unkosten decken. Wir kratzten alles zusammen, was vom Erbe unserer Mutter noch blieb, und mieteten den Saal. Danach blieb kaum noch etwas für Plakate. Jonah überreichte den Scheck mit den zusammengekniffenen Lippen eines Glücksspielers. »Ein verpatzter Einsatz, und wir müssen uns echte Arbeit suchen.«
    Aber wir verpatzten keinen Einsatz. Den Schubert hatten wir an der Westküste besser gegeben, und der Wolf erreichte nicht ganz die Intensität, die er an seinen besten Abenden hatte. Aber trotzdem war das Konzert in der Town Hall ein größerer Erfolg als alles, was Jonah bisher erreicht hatte. Als der Vorhang sich hob, schwindelte mir vom Adrenalin. Aber Jonah wirkte nie ruhiger, nie entspannter, als wenn die Verzweiflung am größten war. Ich kam mir im Rampenlicht des Saals wie bei einem Verhör vor. Jonah trat strahlend in das gleißende Licht und blickte als junger Abenteurer ins Publikum.
    Wir hatten lange über dem Programm gebrütet, unentschlossen zwischen Risiko und der Sicherheit des Konventionellen. Als Erstes kam der »Erlkönig«. Zur Eröffnung brauchten wir einen sicheren Sieger, und den Schubert hatten wir schon so oft gespielt, er wäre wahrscheinlich sogar noch weitergaloppiert, wenn das Pferd uns beide abgeworfen hätte. Dann, mit Goethe als Bindeglied, kamen die drei Harfenspielerlieder von Hugo Wolf, komplexe Kompositionen, bei denen jede Note die Katastrophe herausforderte. Danach Brahms, drei Lieder aus Opus 6.
    »Wo ist die Verbindung?«, fragte ich beim Planen.
    »Wie meinst du das, ›Wo ist die Verbindung ?‹ Wolf konnte Brahms nicht ausstehen. Die beiden sind unzertrennlich, wie Zwillinge.«
    Für ihn war das Verbindung genug. Ja, Jonah baute das ganze Konzert als einen einzigen großen Spannungsbogen aus Tod und Verklärung auf. Der erste Teil war unser Rückzug aus der Welt in die Einsamkeit des Künstlers. Der zweite Teil war die leidenschaftliche Rückkehr in das Chaos des Lebens. Sein Brahms ließ den ersten Teil des Konzertes mit einem Abgesang auf die Schönheit des neunzehnten Jahrhunderts enden. Aus dem Schlaf der Pause weckten wir das Publikum mit einem neu belebten »Wachet auf!« Jonah war auf den Gedanken gekommen, dass dieses alte Choralvorspiel, das man sonst nur von riesigen Chören gesungen hörte, ein perfektes Solo abgab. Die Selbstverständlichkeit der schwerelosen Melodie war sein angestammtes Recht. »Zion hört die Wächter singen.«
    Vor seinem inneren Ohr hörte Jonah den Wächter so langsam singen, dass es klang wie eine Glockenboje in tiefer Nacht. Sein Tempo machte die vier Töne nach dem ersten Dreiklang zum Hintergrundleuchten des ganzen Universums. Die meisten Zuhörer haben keinen Begriff davon, wie viel schwerer ein leiser Ton zu erzeugen ist als ein lauter. Halsbrecherisches Tempo stiehlt jedem verhaltenen Legato die Schau, dabei ist das Letztere die größere Kunst. Verlangsamt bis fast zum Stillstand, machten mir Bachs große, weit ausschwingende Noten mehr Sorgen als jedes andere Stück unseres Programms. Jonah

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