Der Klang der Zeit
erst nach einer ganzen Weile erkannte ich Mr. Bateman, meinen alten Klavierlehrer in Juilliard. Noch schlimmer erging es Jonah. Eine ältere Frau hatte ihn fest im Griff und sagte nur immer wieder: »Du weißt nicht mehr, wer ich bin, nicht wahr? Du erkennst mich nicht!« Jonah grinste verlegen, nickte mit dem Kopf, und dann begann die Frau zu singen. Aus der spröden Stimme war noch heraus-zuhören, wie gut sie einmal geklungen hatte, und nur die vorgerückten Jahre hatten ihr ihre Kunst genommen. Zitternd sang sie: »Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten.« Jonah erkannte die Stimme sofort, auch wenn der Name Lois Helmer ihm noch immer nicht einfiel. An diesen ersten Auftritt konnte er sich erinnern, auch wenn er kaum noch etwas über den Jungen wusste, der damals gesungen hatte. Das Glück, das Vertrauen, die Ahnungslosigkeit: Nichts Sichtbares blieb aus so großer Entfernung. Alles was noch da war, war dieses wunderbare Duett. Und so standen die beiden dort und sangen gemeinsam die ersten vier Einsätze aus dem Gedächtnis, mitten im Getriebe der geschäftigen, verlegen dreinblickenden Menge, die eine Stimme längst rostig gewor-den, die andere weit über den Punkt hinaus, den die Erste in ihren besten Zeiten erreicht hatte.
Ein hagerer Mann mit einem spärlichen, doch langen Spitzbart strich durch die äußeren Bereiche dieser Versammlung, fiel in der Masse der dunklen Anzüge durch seine engen schwarzen Jeans und das grün-blaue Paisleyhemd auf, bei dessen Anblick mir schwindelig wurde. In einer Flaute kam er durch den Raum auf mich zu, ein breites Grinsen, das selbst das Bärtchen nicht verbergen konnte. »Strom Zwo. Wie sieht's aus, Bruder?«
»Mein Gott. Thad West!« Es kam mir vor, als wäre in einer Opera buffa ein Nebendarsteller plötzlich von der Bühne gesprungen, um mich im Parkett zu begrüßen. Ich packte ihn bei den lässig herabhängenden Ellenbogen. »Mann, Thad! Was zum Teufel machst du denn hier?«
»Musste doch hören, was ihr Jungs heutzutage draufhabt. Ihr zwei habt den alten Kasten hier zum Swingen gebracht. Das muss ich sagen. Ihr zwei habt's raus.«
»Wo wohnst du denn jetzt?«
»Ach, weißt du. Hier und da. Mount Morris Park.«
Der Gedanke durchzuckte mich: im Park, nicht am. »Hier in New York? Und du hast dich nie ... Was treibst du so?«
»Oh, ich mache Musik. Was sonst?«
»Ehrlich? Was spielst du?«
Er nannte mir ein paar Namen, die mir allesamt nichts sagten. Er erzählte von Clubs, schrieb mir Adressen auf. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Da stand er, mein alter Zimmergenosse aus Kindertagen. Ich spürte das Erwachsenenleben wie eine Kröte auf meiner Schulter. »Wir kommen bald mal vorbei und hören es uns an.« In einem anderen, besseren Leben.
»Macht das. Und wartet nicht zu lange. Wir spielen was ganz Besonderes für euch.«
»Hat Jonah dich schon begrüßt? Weiß er, dass du hier bist?« Ich sah mich um, entdeckte ihn, umgeben von alten Juilliard-Genossen, die allesamt auf ihn einredeten.
»Ich werde mich dem Meister nähern, wenn das Volk ihn nicht gar so sehr bedrängt.« Es war nicht grausam gemeint, aber ich bekam doch die Rechnung für mein halbherziges Versprechen. Thad liebte meinen Bruder noch immer. Aber Sehnsucht nach ihm hatte er offenbar nicht mehr.
Ich spürte, dass ich breiter grinste, als gut für mich war. »Und wo hast du Earl gelassen an diesem historischen Tag?«
»Earl ist in Vietnam, Mann.«
»Als Soldat?«
»Na als Feldprediger bestimmt nicht.«
Ich konnte es nicht glauben. Earl der Unerschrockene, der Unbesiegbare, in eine so gewöhnliche Falle gegangen. »Sie haben ihn eingezogen?«
»Das nicht. Earl hat sich freiwillig gemeldet. Wollte die Welt sehen. Sieht jetzt mehr von ihr, als ihm lieb ist, nehme ich an.«
Ein jähes Ende für meine Freude über diese unerwartete Begegnung mit meiner Vergangenheit. »Thad, Thad, Thad. Ich muss mir anhören, was du da in deinem Club spielst.«
Er lächelte, ließ sich nicht hinters Licht führen. Und plötzlich fragte er: »Kannst du dich noch erinnern, wie sie die Tür beschmiert haben? Mit rotem Nagellack?« Tief in der Kindheit vergraben, und trotzdem sehe ich diese Zeichnung, mit der sie unsere gemeinsame Tür besudelt hatten, heute noch vor mir. »Weißt du noch? Nigel.« Ich brauchte nicht einmal zu nicken. »War das das erste Mal, dass dir so was passiert ist?«
Ich zuckte mit den Schultern, machte eine hilflose Handbewegung. Bei so etwas ist jedes neue Mal das erste
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