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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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so sehr haben sie sich verändert«, schimpft Nettie Ellen. Die Zwillinge putzen die Jungen heraus und gehen mit ihnen, jede einen im Arm, im Viertel spazieren, zeigen sie jedem Nachbarn, der so dumm ist und stehen bleibt. Selbst Dr. Daley – dessen eigener Michael den kurzen Hosen ja noch nicht lange entwachsen ist – wird zum rührseligen Opa, nennt seine kleinen Nachfahren bei den albernsten Namen.
    Einen dieser Besuche richten David und Delia so ein, dass sie zu Charlies erstem Urlaub dort sind. Ihr Bruder kommt in Uniform ins Zimmer gestürmt, und alle halten unwillkürlich den Atem an. Als Bürger zweiter Klasse ist er nach Montford Point ausgerückt, als Marineinfanterist kehrt er zurück. Angehender Infanterist jedenfalls. 51. Bataillon. Nicht dass er eine jugendliche oder romantische Zuneigung zu dieser Art von Dienst hätte. Er macht es nur, weil es ihm noch vor wenigen Monaten verwehrt war. Dr. Daley erhebt sich und schüttelt seinem Sohn die Hand. Einen Moment lang stehen sie feierlich da, dann trennen sie sich ohne ein Wort.
    »Meine Güte! Meine Güte!« Nettie Ellen befühlt die Uniform.
    »Jawohl, das ist sie«, sagt Charlie. »Das ist der Fummel, für den wir nicht gut genug waren, jaa-woll. Was ihr hier vor euch seht, das ist die echte, dreidimensionale Inkarnation von Freund Frankies Resolution Achtundachtzig-null-zwo!«
    »Willst du wohl still sein«, sagt seine Mutter. »Habe ich dir etwa beigebracht, lästerliche Reden über unseren Präsidenten zu schwingen?«
    »Nein, Mama.« Die pure Zerknirschung, mit einem Zwinkern zu Delia. »Das hast du mit Sicherheit nicht.«
    Die Zwillinge weichen ihm nicht mehr von der Seite. »Göttlich.« –»So elegant.« – »Toller Mann!« – »So gut sieht keiner aus.«
    »Hör dir das an. Ohne Uniform hätten meine Schwestern das nie gemerkt«, sagt Charcoal zu David.
    Nur dass er jetzt nicht mehr Charcoal ist. Dieser Mann hat nichts mehr von dem Jungen, als der er eingerückt ist. Inzwischen ist er älter als David, um ein ganzes Jahrzehnt hat er ihn überholt. Über Nacht gealtert beim Anblick von Dingen, die selbst Philadelphia noch nie gesehen hat. Beim Essen unterhält er sie mit Geschichten aus der Hölle der Grund-ausbildung. »Dann haben sie uns am Abend mitten im Sumpf abgesetzt. Zwei Tage mussten wir durchhalten, nur mit einem Taschenmesser und einem Feuerstein.« William Daley betrachtet seinen Sohn mit martia-lischem Stolz, einer Hochachtung, die fast schon Rivalität ist. Und der kleine Michael vergeht vor Neid.
    »Hast du deine Tanten und Onkel schon besucht?«
    »Noch nicht, Mama. Wir bekommen nicht oft Ausgang. Aber das mache ich noch.«
    Nach dem Essen sitzt er mit seiner Schwester auf den Verandastufen und raucht eine Zigarette.
    »Hast du das auch bei den Marines gelernt?«, fragt sie.
    »Jedenfalls haben sie dafür gesorgt, dass ich es nicht mehr verstecke.« Sein Gesicht ist grimmig. Genau die Miene, die er immer hatte, wenn Leute auf die andere Straßenseite wechselten, statt an ihnen vorbeizugehen.
    »Also, was ist los, Char? Was hast du den anderen verschwiegen?«
    Er blickt sie misstrauisch an, bereit alles abzustreiten, worauf sie ihn nicht festnageln kann. Aber sie kann. Er drückt seine Zigarette auf den Betonplatten des Bürgersteigs aus. »Es ist ein Witz, Delia. Ein schlechter Witz. Wir stehen schon mitten im Krieg, dabei haben wir den Exerzierplatz noch gar nicht verlassen.«
    Sie schaukelt ihren Erstgeborenen auf den Knien. Der kleine Joey ist im Haus, in guten Händen bei Großmutter und Tanten. Sie hält Jonah die Ohren zu, schützt ihn vor der Wut seines Onkels, lenkt sie ab. Sie sieht Charlie zu, wie er die Zigarette ausdrückt, und all ihre Hoffnungen auf etwas Gutes, auf einen gerechten Krieg zerdrückt er mit ihr.
    Er atmet tief durch. »Du denkst, Philadelphia ist eine Scheißstadt? Im Vergleich zu North Carolina ist das hier die Insel der Seligen, das kannst du mir glauben. Wie hat Mamas Familie es all die Jahre da unten ausgehalten? Wie haben sie das überlebt? Man kriegt nirgends was zu essen, außer in der Kantine. Ich kann nicht mal nach Lejeune fahren, nicht mal in Uniform, ohne Begleitung eines Weißen. Ein weißer General kommt nach Montford Point und hält eine Rede vor den ersten Neger–Marines in der Geschichte des Landes. Und was erzählt er uns, mitten ins Gesicht? Wie erstaunt er ist, dass jetzt ein paar schwarze Emporkömmlinge seine ach so makellose Uniform abtragen.«
    Charles nimmt seine Kappe ab

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