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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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im Camp in North Carolina ist. Ich will dich nicht verlieren.« 
    »Keine Sorge. Mich nehmen sie nicht.«
    Die Art wie er das sagt lässt sie verstummen. Ein Privilegierter. Aber Professoren sind doch gewiss nicht vom Militärdienst befreit? Seine Kollegen, die zu den Musikabenden kommen, Männer, die zwischen einem Dutzend Universitäten unterwegs sind, als ob sie alle für denselben Arbeitgeber arbeiteten und die nichts gemeinsam haben als ihr kurioses Englisch, ihre Vorliebe für Geheimnisse und ihren Hass auf Hitler: Würden sie denn nicht mit allen anderen in den Krieg ziehen?
    »Sie werden hier gebraucht«, erklärt David ihr.              
    Wie kann das sein? Er hat ihr doch immer erzählt, dass es überhaupt keine überflüssigere Arbeit gibt als ihre, nichts Theoretischeres. Außer der Musik vielleicht.
    Die letzten drei Schwangerschaftswochen kann Delia nur noch kriechen. Ihre Stimme wandelt sich zum Tenor. Sie sagt ihren Schülern und sogar dem Kirchenchor ab. Sie kann weder sitzen noch liegen oder stehen. Sie kann ihren Sohn nicht mehr auf dem Schoß halten. Sie ist unglaublich dick. »Meine Frau«, sagt David im Scherz, »Erst war sie eine Bagatelle von Webern, jetzt ist sie eine Bruckner-Symphonie.« Delia versucht zu lächeln, aber die Haut ist zu straff gespannt.
    Zum Glück ist er zu Hause, als es losgeht. Die Wehen setzen am 16. Juni um 2 Uhr morgens ein, und bis David sie ins Krankenhaus ein Dutzend Häuserblocks entfernt gebracht hat, hätte sie das Kind beinahe schon im Foyer bekommen. Es ist ein Junge, wieder ein hübscher Junge. »Sieht genau wie seine Mutter aus«, meint die Krankenschwester.
    »Wie sein Bruder«, sagt die Mutter, noch ganz weit weg.
    »Dann wären wir jetzt also vier«, sagt sein Vater immer wieder. Er klingt benommen. »Ein Quartett.«
    Wieder steht auf der Geburtsurkunde »farbig«. »Wie wäre es, wenn sie ›gemischt‹ schrieben?«, fragt sie. »Das wäre fair zu allen.« Aber Gemischt ist keine Rasse.
    »Diskret und stetig.« Ihr Mann, der Mathematiker. »Und die beiden sind nicht symmetrisch?«
    »Nein«, antwortet sie. »Sind sie nicht.«
    Das beschäftigt ihren Mann. »Die weißen Gene sind rezessiv. Schwarz ist dominant.«
    Sie lacht. »So dominant nun auch wieder nicht.«
    »Aber ja. Die Weißen sind zum Aussterben verurteilt. Sie sind die Ausnahme. Der so genannte reine Fall. Alles, was nicht weiß ist, ist schwarz, nicht wahr? So wollen es die Weißen.«
    Die Weißen, hört sie ihren Bruder Charlie sagen, entscheiden alles.
    »Da sollten die Weißen doch sehen, dass sie auf Dauer damit nicht durchkommen ? Sie schaffen sich selbst ab, selbst wenn es nur um ein Prozent pro Jahr vorangeht!«
    Sie ist zu erschöpft, zu sediert, zu froh, um darauf einzugehen. Ihr Baby ist ihr Baby. Ein Fall für sich. Rasse: Joseph. Nationalität: Joseph. Gewicht, Größe, Geschlecht: alles ihr neues Baby, ihr zweiter JOJO .
    Aber nicht nur die Rasse, auch die Augenfarbe nimmt das Kranken-haus falsch auf. Sie bittet sie, es zu korrigieren: grün, zur Sicherheit ihres Jungen. Damit er später keinen Schaden daraus hat. Aber die Schwester ändert es nicht. Sie sieht das Grün nicht. Rinde und Blatt haben für sie dieselbe Farbe.
    Das Baby kommt nach Hause, und Jonah inspiziert es. Die Enttäuschung des großen Bruders ist grenzenlos. Das neue Geschöpf will nichts als schlafen und trinken, trinken und schlafen. Abartig ist das, und was den siebzehn Monate alten am meisten in Wut bringt, das ist, dass beide Eltern ohne weiteres darauf hereinfallen. Sie achten sehr darauf, dass sie sich abwechselnd um Jonah kümmern – immer der, der das neue Baby gerade nicht hat.
    Alles ist ganz nach Delias Wünschen. Nach allen Wünschen, die sie sich überhaupt vorstellen kann. Wenn sie doch nur an dieser Stelle die Zeit anhalten könnten. Jedem der Kinder ins Ohr summen, horchen, wie sie selbst summten. Die schlichte Melodie der Tage stets aufs Neue spielen.
    Wieder prophezeit ihre Mutter, dass das Kind dunkler wird, und diesmal hat sie Recht. Er wird dunkler als sein Bruder, aber doch nicht mehr als Milch mit ein wenig Kaffee. Noch bevor er laufen kann, hilft er ihr schon. Er will seiner Mutter keine Mühe machen, nicht einmal, wenn sie ihn füttert. Sie kann es gar nicht mit ansehen. Noch bevor er sprechen kann, tut er alles, was andere von ihm verlangen.
    Alle paar Monate machen sie mit den Kindern einen Ausflug nach Philly. Ihre Eltern wollen mehr. »Ich kenne sie ja kaum wieder,

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