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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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und kratzt sich den kahl rasierten Schädel. »Willst du mal meine Papiere sehen? Quer über den Ausweis steht in dicken fetten Lettern ein Stempel FARBIG, für den Fall, dass mal einer kommt, der es nicht sieht. Und was lernen wir daraus ? Der Präsident kann sie zwar zwingen, uns zu nehmen, aber er kann sie nicht zwingen, Marines aus uns zu machen. Was meinst du, wofür die Einundfünfzigsten vorgesehen sind? Wir dienen als Stewards. Sie schicken uns in den Pazifik, wo wir die Kammerdiener für die weißen Bataillone spielen. Wenn der Feind uns unter Beschuss nimmt, verstecken wir uns hinter Ölfässern und schießen mit Bohnen zurück.«
    Der kleine Jonah befreit sich aus Delias Griff und will ein Eichhörnchen fangen. Das Tier rettet sich auf einen Baumstamm. Der Kleine, verdutzt, steht mit leeren Händen da und macht sich dann an die Erkundung des eingezäunten Gartens. Charlie beobachtet seinen Neffen mit gleich-mütigem Blick. Aber lange lenkt das Kind ihn nicht ab. »Selbst nach all dem Scheiß, mit dem wir hier groß geworden sind, nach allem, was wir hier erlebt haben, hätte ich so was nicht für möglich gehalten. Das Leben in diesem Land ist ein einziger Albtraum. Hitler ist nicht anders als das Land hier, Delia. Ich wäre mir nicht mal sicher, dass es auf dieser Seite des Atlantiks wirklich jemanden gibt, der was gegen ihn hat.«
    »Jetzt halt aber den Mund, Charlie.« Er tut es, aber nur weil sie seine große Schwester ist. »Red doch keinen Blödsinn.« Sie hätte gern etwas erwidert, ein Argument, das ihn vom Gegenteil überzeugt hätte. Aber sie sind beide zu alt für Beschwichtigungen. »Der Kampf ist derselbe, Char.« Und wer konnte es schon sagen? Vielleicht stimmte das. »Du bist dabei. Du musst kämpfen. Alles ein und derselbe Krieg.«
    Ein Lächeln macht sich auf Charlies Zügen breit, ein Lächeln, das nichts mit ihr zu tun hat. »Wo wir schon von Krieg reden. Wenn dein kleiner brauner Bomber da noch mehr von Mamas Rosen ausrupft, sind wir allesamt geliefert.« Bevor sie auch nur einen Schritt in Richtung Jonah gehen kann, stößt Charlie einen Pfiff aus. Bei dem durchdringenden, reinen Ton bleibt Jonah wie angewurzelt stehen. »He, Soldat. Antreten. Melden zum Dienst!« Der Junge lächelt und antwortet mit einem knappen, koketten Kopfschütteln. Charles Daley, 51. Bataillon US-Marinekorps, nickt zurück. »Ein heller Bursche, dein Sohn.«
    Sie fahren nicht so oft nach Philly, wie sie sollten. Sie kann die Zeit am Wachstum ihrer Söhne messen. Sie möchte das Tempo, mit dem sie sich verändern, bremsen, aber das kann sie nicht. Ihre Mutter hat Recht: Ihre Männer sind immer wieder neu und fremd, jedes Mal, wenn sie am Frühstückstisch sitzen. Sogar David, und das ist besonders unheimlich. Er verändert sich so schnell, dass sie nicht mehr nachkommt. Er ist nicht kalt – nur abwesend. Jeder Mensch auf der Welt lebt nach seiner eigenen Uhr, sagt er. Einige hinken ein, zwei Stunden hinterher, andere sind um Jahre voraus. »Und du«, sagt sie, und das ist einer der Gründe, warum sie ihn liebt, »du bist dein eigenes Greenwich.«
    Jetzt ist er ihr auf Dauer voraus – nicht viel; zehn, fünfzehn Minuten vielleicht – geradeso viel, dass sie ihn verpasst. Sie sucht die Ursache bei sich selbst. Ihr Körper hat sich verändert nach der Geburt der Jungen. Aber daran kann es nicht liegen; in den Augenblicken, in denen sie sich doch begegnen, wenn seine Hand auf ihrem Rücken legt oder er die Nase staunend in ihrem Nacken vergräbt, schlägt seine Uhr wieder im gleichen Takt wie die ihre, pendelt sich ein auf ihren Rhythmus und verweilt im süßen Nachgefühl. Sie macht sich Sorgen, dass es womöglich an den Jungen liegt, daran, dass sie ständig Aufmerksamkeit beanspruchen. Aber er liebt die beiden wie eh und je, liest Jonah unermüdlich Kinderreime vor und zaubert für Joey den ganzen Sonntag lang mit einem Taschenspiegel tanzende Sonnenflecken an die Wand.
    Er ist zu viel unterwegs. Den Zugfahrplan nach Chicago kennt sie längst auswendig. Dort hat sein geliebter Mr. Fermi ein Forschungslabor eingerichtet. David fährt so oft hin, man könnte meinen, er sei dort angestellt.
    »Ziehen wir um?«, fragt sie. Versucht nachsichtig zu sein, eine gute Ehefrau, aber es klingt missmutig und vorwurfsvoll.
    »Nicht, wenn du es nicht willst.« Was sie nur noch mehr ängstigt. Sie gehörte nie zu den Menschen, mit denen die eigene Phantasie durchgeht. Aber das ist auch gar nicht nötig; die Phantasie hat

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