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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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eine Anstellung bekommen. Wegen der legendären Fähigkeit, anderer Leute Probleme zu lösen; weil er beim Mittagessen in der Kantine auf die Rückseite von Servietten die Lösungen kritzelt, nach denen seine fassungslosen Kollegen seit Monaten suchen.
    »Lass mich raten. Die Army will, dass du eine Zeitbombe baust.« Das Entsetzen auf seinem Gesicht ist schlimmer als jede nächtliche Angst. »Meine Güte.« Sie hält sich den Mund zu. »Das ist doch nicht möglich.« Sie würde lachen, wenn er es zuließe.
    Aber das tut er nicht. Und dann sind nur sie beide das Gesetz. Er erzählt ihr, was er niemandem erzählen darf. Er hinterlässt keine Spuren, zeichnet keine Bilder. Aber er erzählt es ihr. Ja, es ist eine weiße Machenschaft. Aber nicht seine Idee. Sie haben ihn dazugeholt, genau wie Hunderte von anderen. Eine ungeheuerliche Sache, eine Sache, die die Zeit beendet, gebaut an geheimen Orten, hier und drüben im Westen.
    »Ich tue nicht viel dabei. Nur Mathematik.«
    »Wissen die Deutschen Bescheid?«
    Er erzählt ihr von seinen alten Freunden aus Leipzig, von Heisenberg und den anderen, von denen, die nicht emigriert sind. »Die Physik«             – sagt er achselzuckend – »ist eine deutsche Wissenschaft.«
    Wenn sie ihn brauchen, muss er fahren. Daran ist nicht zu rütteln. Es könnte den Krieg beenden. Es könnte Charlie nach Hause holen und all die anderen. Ihre Jungen vor Schaden bewahren.
    »Jetzt hast du mich in der Hand. Weil ich es dir erzählt habe. Wann immer du mich ...« Er fährt sich mit dem Finger quer über die Kehle und macht ein gurgelndes Geräusch. Sie nimmt seine Hand. Nicht mal im Scherz. Er bleibt noch eine Zeit lang neben ihr sitzen, beide rühren sich nicht.
    »Eines Tages«, sagt er, »eines Tages musst du mir auch etwas sagen. Etwas, was du keinem anderen Menschen je sagen kannst.«
    »Das habe ich längst getan.«
     
    An Joeys erstem Geburtstag ist David zu Hause. Die ganze Familie sitzt am Klavier und spielt vierhändig »Happy Birthday«, jeder Spieler mit einer Hand; das Geburtstagskind ist auch mit von der Partie und juchzt vor Vergnügen.
    Den ganzen Sommer über ist David ständig unterwegs, auch in jener ersten Augustnacht, als die Polizei im Braddock Hotel einen schwarzen Soldaten in Uniform erschießt. Delia hört klassische Musik im Radio –den Sender, den sie anschaltet, wenn sie die Jungen ins Bett bringen will. In dieser brütenden Hitze schlafen sie nicht leicht ein, ohne Ventilator, ohne Musik und ein offenes Fenster kommen sie nicht zur Ruhe. Sie ist eingeschlafen, es ist schon nach 11 Uhr, als jemand an die Tür klopft und sie weckt. Sie springt auf, taumelt, wirft einen Morgenrock über. Das Klopfen wird immer verzweifelter, und sie hört eine atemlose Stimme vor der Tür. Barfuß geht sie zur Tür, ruft ängstlich: »Wer ist da?« Ihr Verstand rappelt sich aus dem Schlaf hoch, flieht aus einem besetzten Land. Die Tür öffnet sich, und sie stößt einen Schrei aus. Die Jungen erwachen, Joey weint. »David?«, ruft sie ins Dunkel. »David, bist du das?«
    Ihr Herz kommt wieder in Gang, als sie Mrs. Washington erkennt, ihre Hauswirtin, und sieht, dass sie in noch größerer Panik ist als sie selbst. »Lieber Himmel, Mrs. Strom. Das ist das Ende. Die Stadt brennt!«
    Delia beruhigt die Frau und holt sie ins Wohnzimmer. Aber setzen will Mrs. Washington sich nicht. Das Ende der Welt will sie im Stehen erwar-ten. Inzwischen sind die Jungen aus dem Bett und drücken sich weinend an ihre Mutter. Das hat immerhin den Vorteil, dass Mrs. Washington sich zusammennehmen muss und mithilft, sie zu trösten. Aber im Flüsterton, als dürften die Jungen es nicht hören, erklärt sie Delia: »Sie kommen hierher. Ich weiß es. Sie kommen in die Straßen, wo die guten Häuser sind. Sie kommen her und werden uns alles nehmen, alles zerstören.«
    Es hat keinen Zweck zu fragen, wer sie sind. Und selbst eine vernünftige Antwort klänge wie Wahnsinn. Alle Gesetze für die Welt draußen gelten nicht mehr. Das ist die einzige Information, die sie bekommen. Delia geht zum Vorderfenster und zieht die Vorhänge zurück. Ein paar Leute sind auf der Straße, wie in Trance, in Bade– und Hausmänteln. Delia zieht sich in aller Eile etwas über. »Gehen Sie nicht nach draußen!«, ruft Mrs. Washington. »Verlassen Sie uns nicht!« Die Jungs stellen sich vor sie, bereit sie zu verteidigen. Aber ein anderes Kind ruft sie nach draußen, ein leiserer, ängstlicherer Ton. Da ist

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