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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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jetzt so viel Zeit, dass sie jede Entfernung im Schneckentempo zurücklegen kann.
    Am Vorabend von Jonahs zweitem Geburtstag wird David nach Chicago gerufen. Die Nachricht überrascht sie. »Wie kannst du diesen Tag verpassen?« Das erste Mal, dass sie ihrem Mann gegenüber einen so scharfen Ton anschlägt.
    Er senkt den Kopf. »Ich habe es ihnen gesagt. Ich habe versucht, den Termin zu verschieben. Vierzehn Personen brauchen mich an genau diesem Tag.«
    »Welche vierzehn Personen?«
    Er antwortet ihr nicht. Er will nicht darüber reden. Er überlässt sie den wildesten Spekulationen. Hebt ratlos die Hände. »Meine Delia. Es ist schon morgen, auf der anderen Seite der Datumsgrenze.« Und so feiern sie eine vorgezogene Geburtstagsparty, mit Hüten aus Zeitungspapier und einem Orchester aus Kämmen und Pergamentpapier. Die Kinder sind begeistert; die Erwachsenen beklommen und unglücklich.
    Tags darauf ist sie mit den Jungen allein. Sie sitzen am Klavier, auf ihrem Schoß streckt Joey die Hände nach den Tasten aus, Jonah neben ihr auf der Bank spielt die Tonika, zu der sie mit der rechten Hand »Happy Birthday« anstimmt. Sie macht mehr Fehler als Jonah. Sie weiß, was es ist. Es ist etwas Weißes. Kein Mann auf der Welt bleibt freiwillig bei einer dunkelhäutigen Frau, wenn er nicht muss. Am Abend schläft sie mit diesem Gedanken ein, und dieselbe Gewissheit lässt sie um drei Uhr nachts aus dem Schlaf auffahren. Es ist eine weiße Frau. Vielleicht geht es gar nicht um Lust. Aber um Vertrautheit. Etwas, dem er sich nicht entziehen kann, etwas Bekanntes, ein Gefühl der Geborgenheit. Nach fast drei Jahren hat er entdeckt, dass die Hautfarbe seiner Frau mehr als eine Nebensache ist. Der Abstand wird nicht geringer, indem man ihn benennt.
    Vielleicht ist es nicht einmal eine Frau. Vielleicht nur weiße Machenschaften, die übliche weiße Flucht. Dinge, von denen sie nichts versteht, Dinge, die das weiße Leben ihr stets vorenthalten hat. Was hat diese Welt je anderes getan als vor ihr davonzulaufen? Warum sollte dieser Mann anders sein? Er hat einen Makel an ihr entdeckt, irgendeinen Fehler, der die Regel bestätigt. Sie hat sich getäuscht, als sie glaubte, sie könnten mit etwas so Zerbrechlichem wie der Liebe über den Besen springen, die Fesseln des Blutes überwinden.
    Die Idee lässt sie nicht los, zu dieser unheimlichen nächtlichen Stunde, in der man einen Gedanken auch dann nicht verbannen kann, wenn man genau weiß, dass er der schiere Unsinn ist. Die Angst sitzt ihr unter der Haut und lähmt sie. Sogar dies lähmende Gefühl beweist, dass sie nicht zusammengehören, dass sie es niemals hätten versuchen sollen. Aber was ist mit ihren Jungen, ihrem Jojo? Die beweisen auch etwas, man muss sie nur ansehen: Sie sind der lebende Beweis für etwas, das allen irdischen Gesetzen widerspricht. Sie steht auf, um sie in ihren Betten zu betrachten. Sie sieht sie im Schlaf atmen, und das rettet sie hinüber bis zum Morgen.
    Bei Tageslicht schwört sie sich zu warten, bis ihr Mann das Thema selbst anschneidet. Alles andere wäre ein Treuebruch. Er wird es ihr sagen. Und doch hat er es bisher nicht getan. Bei der Hochzeit haben sie geschworen, dass keine Lüge sie je trennen soll. Jetzt legt sie dieses kleinere Gelübde ab, damit er das größere brechen kann.
    »Was ist los?«, fragt sie und bedrängt ihn. Er ist gerade erst vom Bahnhof gekommen. »Sag mir, was da draußen vor sich geht.«
    »Frau.« Sie soll sich erst setzen. »Ich habe ein Geheimnis.«
    »Dann vertrau es mir an, sonst teilst du dein Geheimnis mit dem heiligen Petrus.«
    Er runzelt die Stirn, versucht ihre Botschaft zu entschlüsseln. »Das Gesetz und mein Ehrenwort verbieten mir, dieses Geheimnis mit jemandem zu teilen. Nicht einmal mit dem heiligen Petrus.«
    Wo ich herkomme, bin ich dein Ehrenwort. In meinem Land schützen wir uns gegenseitig vor dem Gesetz.
    Er versteht, was sie meint, auch wenn sie es nicht ausspricht. Er sagt ihr, was sie längst weiß. »Es hat mit dem Krieg zu tun. Höchste Geheimhaltungsstufe.«
    »David«, sagt sie, fast schon geschlagen. »Ich weiß, womit du dich beschäftigst. Wie kann deine Arbeit auch nur von der geringsten ...?«
    Er lacht, noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hat. »Ja! Nutzlos. Meine Spezialität, vollkommen nutzlos. Aber deswegen brauchen sie mich nicht. Sie brauchen meine Hilfe bei einer anderen Sache, die damit eng zusammenhängt.«
    Alles hängt irgendwie zusammen. Deswegen hat er überhaupt

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