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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Kann ihm kein Versteck vor der Ewigkeit bieten. Sie kann sehen, wie der Mathematiker sich abmüht mit der verrückten Logik, der er dient: farbig hier, dort weiß. Der Vogel und der Fisch können ihr Nest bauen. Aber der Ort, an dem sie es bauen, wird in Flammen aufgehen.
    »Vielleicht haben sie doch keine vier Möglichkeiten zur Wahl. Unsere Jungen.«
    Sie fasst ihn am Arm. »Kein Mensch hat eine Wahl.«
    »Das, was wir sind, wird uns töten.«
    Sie wendet den Kopf ab, als die Tränen kommen. Er legt ihr die Hand in den Nacken und spürt die steinharte Bürde. Sanft gleiten seine Finger über ihre Schultern, wie Wasser, das über Steine rieselt. Wenn Menschen Zeit hätten wie die Erosion. Wenn sie mit der Geschwindigkeit der Steine leben könnten. Er massiert ihr den Nacken und redet. Sie blickt nicht auf.
    »Mein Vater war das alles leid. ›Unsere Leute. Das auserwählte Volk. Die Kinder Gottes.‹ Wir und sonst keiner. Fünf Jahrtausende waren genug. Zum Juden wurde man nicht durch Geographie, nicht durch Staatszugehörigkeit, auch nicht durch die Sprache, nicht einmal durch eine gemeinsame Kultur. Nur durch die Abstammung. Nichts hatte er mit einem Juden aus Russland oder Spanien oder Palästina gemeinsam, nichts außer, dass sie zu ›den gleichen Leuten‹ gehören. Davon hat er sogar meine Mutter überzeugt, deren Großeltern in den Pogromen umgekommen sind. Aber eins ist komisch.« Sie verzieht unwillkürlich den Mund, als seine Fingerspitzen ihn berühren. Sie weiß es; sie weiß es. Er braucht es nicht zu sagen. »Das Komische ist ...«
    Dass seine Eltern trotz allem auserwählt sind.
    Sie hebt den Kopf und blickt zu ihm auf. Sie muss sich vergewissern, dass er noch da ist. »Wir können ein eigenes Volk sein.« Die Erneuerung des ersten Schwurs. Alles, was zerstört wird, entsteht wieder neu. »Nur wir allein.«
    »Und was erzählen wir den Jungen?«
    Sie gehört zu ihm. Für diesen Mann wird sie alles tun, seine einsame Ein-Mann-Rasse. Alles, sogar lügen. Und so besiegelt sie ihren Untergang: Liebe. Sie legt ihm die Hand in den Nacken und vollendet die Symmetrie, die er begonnen hat. »Wir erzählen ihnen von der Zukunft.« Dem einzigen Ort, den sie hatten.
    Er stöhnt. »Aber von welcher?«
    »Der Zukunft, die wir beide gesehen haben.«           
    Dann erinnert er sich. Er fasst wieder Fuß im Nichts, ein Baum auf felsigem Grund, der in einer Hand voll Erde wurzelt. »Ja. Damals.« Die Zukunft, die sie hierher geführt hat. Die Zukunft, die durch sie erst möglich wird. Seine Aufgabe ist es, solche Augenblicke, solche Risse in der Zeit aufzuspüren. Dimensionen, die noch nicht existieren, werden entstehen, wenn sie sie öffnen und erkunden. Sie können sie Schritt für Schritt erschließen, ihre ideale Zukunft. Monat für Monat, Kind für Kind. Ihre Söhne werden die Ersten sein. Kinder des kommenden Zeitalters. Freie Bürger einer Gemeinschaft, in der es keine Rassentrennung mehr gibt, keine Zweiteilung, keine Teilung, wo Rasse einfach nicht mehr existiert: Wo sich nichts mehr vermischt, sondern alles zusammenklingt wie in einem Akkord.
     
    Und auch Amerika muss den Sprung in seine eigene unmögliche Zukunft wagen. Der Hochmut der Nazis – das jüngste Auflodern der weißen Weltordnung – zwingt das Land zum Großreinemachen. Die Piloten von Tuskegee, die 758. Panzerdivision, die Einundfünfzigste und Zwei-undfünfzigste Marineinfanteriedivision und Dutzende von anderen schwarzen Einheiten werden zum Einsatz an die schwierigsten Stellen der weltweiten Front geschickt. Wie auch immer die Zukunft nach diesem Krieg aussehen wird – das Morgen von gestern ist endgültig tot. Im Januar 1944 bekommt Delia einen Brief von Charles. Er ist zur Küs-tenartillerie versetzt worden.
     
    Wir beginnen jetzt mit unserer ersten größeren Offensive – dem Durchmarsch durch befestigte feindliche Stellungen in Georgia, Alabama und Mississippi. Wenn es uns gelingt, einen Brückenkopf zu errichten und die feindlichen Linien zu durchbrechen, wollen wir auf schnellstem Wege durch Texas, New Mexico und Arizona vordringen – gefährliches Terrain, wie du weißt, – und eine Vorpostenlinie in San Diego aufstellen. Von da werden wir uns einschiffen und auf die Japaner treffen. Im Vergleich zu dem, was man hier unten erlebt, dürfte das ein Kinderspiel sein.
     
    Mitte Februar schickt er einen weiteren Brief, diesmal aus Camp Elliott in Kalifornien.
     
    Grüße aus Tara West ... Wir haben hier ein paar Jungs

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