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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Hintertür zu fliehen, wenn die Menge das Haus erreicht. Die ganze Nacht über hört sie jemanden nach ihr rufen, eine einzelne Stimme in der brodelnden Masse. So sitzen die vier beieinander, während die Welle der Gewalt an ihre Straße anbrandet, sich auftürmt zu tosender Hilflosigkeit, bevor sie dann kurz vor Sonnenaufgang verebbt.
    Lautlos kommt der Morgen. Die Wut der vergangenen Nacht ist verflogen, und verändert hat sich nichts. Verwirrt erhebt sich Delia von ihrem Wachposten. Sie geht nach vorn zum Wohnzimmer und staunt, dass es noch da ist. Sie hat es doch gesehen. Das Haus war fort, und jetzt ist es wieder da, und sie weiß nicht, wie sie von dieser einen Gewissheit zurück zur anderen gelangen soll.
    Mrs. Washington drückt Delia zum Abschied inbrünstig an sich. »Gott segne Sie. Ich war halb tot vor Furcht, und Sie waren hier. Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben.«
    »Ja«, antwortet Delia, noch ganz benommen. Und dann: »Nein! Ich habe doch gar nichts getan.« Aber das war es wohl, was sie gerettet hat. Dass sie stillgehalten und gewartet hat, bis der Kelch an ihr vorüberging.
    Als David zwei Tage darauf zurückkehrt, versucht sie ihm von den Ereignissen zu berichten. »Hast du dich gefürchtet?«, fragt er. Die Last der fremden Sprache behindert ihn so sehr, er versucht nicht einmal zu fragen, was er wirklich wissen will.
    »Wir haben einfach nur dagesessen, wir vier, und gewartet. Ich wusste, was kommen würde. Ich war mir sicher, dass alles längst entschieden war. Längst geschehen. Und dann ...«
    »Und dann geschah es nicht.«
    »Dann geschah es nicht.« Sie schüttelt den Kopf, kann es nicht glauben. »Das Haus ist noch hier.«
    »Noch hier. Und wir alle ebenfalls.« Er nimmt sie in den Arm, aber das macht sie beide nur noch ungläubiger. »Was hat die Unruhen verursacht?«, fragt er. Sie erzählt es ihm: Eine Festnahme in einem Hotel. Ein Soldat, der die Polizei daran hindern wollte, eine Frau festzunehmen. »Sechs Tote? So viele Häuser verbrannt? Alles wegen der einen Festahme?«
    »David.« Erschöpft schließt sie die Augen. »Du verstehst das nicht. Du wirst es nie verstehen.«
    Sie sieht, wie es ihn trifft wie eine Ohrfeige: ein Urteil. Eine Zurechtweisung. Er, stets der Wissenschaftler, versucht sich auszumalen, was in ihrem Kopf vorgeht. Aber er kann es nicht. Er kann nicht begreifen, was für ein Druck das ist, Millionen von Leben angespannt bis zum Zerplatzen, eine Sprengladung, die bei der kleinsten Berührung explodiert. Er wüsste überhaupt nicht, wo er mit seinen Berechnungen ansetzen sollte. Es ist etwas, das man ererbt, das um Jahrhunderte weiter zurückreicht als die eigene Geburt. Für einen Weißen: eine Randaliererin. Aber für diejenigen, die das Gesetz auslöscht: das ewig drohende unwiderrufliche Todesurteil.
    David nimmt seine Brille ab und putzt sie. »Du sagst, ich kann das nicht verstehen. Aber unsere Jungs?«
    Zwei Tage nach dem Ereignis haben die Jungen den Aufstand schon vergessen. Aber irgendwo tief drinnen wird die Erinnerung bleiben daran, wie sie sich in der Küche verstecken mussten, eines Nachts, als sie noch zu jung waren, um zu begreifen warum. Werden sie dann daran zurückdenken auf die Weise, die sie kennt und die ihr Vater niemals kennen wird? »Ja. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Der größte Teil von ihnen wird es wissen.« Als ob ein solches Wissen teilbar wäre.
    David blickt sie flehend an, er will aufgenommen werden. Sonst gehören seine Söhne nicht zu ihm. Jede Volkszählung wird sie trennen. Jede Statistik. Sie sieht, wie die Welt ihm seine Sklavenkinder fortnimmt, sie lebendig begräbt in einem namenlosen Grab. Wir sind nicht unsere eigenen Herren. Immer bestimmen andere, was wir zu sein haben. Er presst die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß sind. »Irrsinn. Die ganze Spezies.« Sie lässt diese Diagnose schweigend über sich ergehen. Ihr Mann leidet. Die Qualen seiner eigenen Familie, verloren im zer-bombten Rotterdam. Die Qualen seiner Frau und seiner Kinder, wie sie sich nachts im brennenden Harlem verstecken müssen, und er ist nicht da. »Nichts ändert sich. Die Vergangenheit wird uns für alle Zeiten beherrschen. Es gibt keine Gnade. Wir entkommen nie.«
    Diese Worte ängstigen sie mehr als die nächtlichen Sirenen. Das wird
    ihr Ende sein, die Resignation dieses Mannes, der doch so sehr darauf angewiesen ist zu glauben, dass die Zeit jeden erlöst. Und trotzdem kann sie ihm nicht widersprechen.

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