Der Klang der Zeit
an einem Neunzig-Millimeter-Geschütz, die ein Schleppziel in weniger als einer Minute abschießen. Zeig mir einer die weiße Mannschaft, die das besser kann. Trotzdem wurden genau diese Jungs gestern Abend, als die oberen Chargen beschlossen, uns mit einem Film zu beglücken, zusam-men mit dem gesamten Einundfünfzigsten auf die hintersten Ränge verbannt, hinter Tausenden von weißen Jungs. Wahrscheinlich sollten die dafür sorgen, dass wir nicht zu nah an Norma Shearer herankamen, weil es sonst womöglich zur Rassenvermischung gekommen wäre. (Ist nicht persönlich gemeint, Schwesterherz.) Nun, wir hatten keine große Lust, nach hinten zu gehen. Schließlich wurden wir ganz rausgeworfen. Das Ganze endete in einer Massenschlägerei, und zwei Dutzend kräftige Burschen landeten hinter Gittern. Morgen stechen wir mit der Meteor in See, keine Stunde zu früh, wenn du mich fragst. Ehrlich, ich kann es kaum erwarten, diese Gestade zu verlassen und mein Glück auf den wilden, unzivilisierten Inseln zu versuchen. Sieh zu, dass an der Heimatfront alles läuft, Delia. Ich meine, pass auf dich auf.
An diesem Abend spricht Delia im Bett mit David über seine nächste Fahrt nach Westen. »Beeilt euch mit eurer Arbeit.« Der eine schnelle Sprung in die Zukunft, der all die retten wird, die ihr lieb sind. Der Gedanke nimmt in ihr Gestalt an, da wo Gedanken noch nicht greifbar sind. Sie muss ihre Jungen vor der Gegenwart beschützen, ihnen die Freude bewahren, die noch keinen Stempel trägt; muss sich weigern zu sagen, was sie sind, und sie lehren, mit ihrem Gesang alle erfundenen Grenzen zu überwinden, hinter denen Menschen sich je verschanzt haben.
Und so erscheint es ihr wie eine Himmelsbotschaft, als eines Abends um die Mitte des Jahres – der Frühling befreit sich endlich aus dem Panzer eines unerträglich langen Winters, Joey sitzt gerade in der Babywanne, David lauscht in seinem dicken Ohrensessel, den Arm um Jonah gelegt, den New Yorker Philharmonikern – aus dem Röhrenempfänger ein Stück für großes Orchester mit dem Titel Manhattan Nocturne in ihre Mietwohnung weht. Es ist ein wundervolles Stück, volltönend und ein bisschen altmodisch. Eingängig. Am Ende summt sie mit, bläst das Hauptthema auf dem Bauch ihres kichernden Joey wie auf einem Kamm.
Sie hört die Musik, ohne wirklich hinzuhören. Aber die wohl geschliffenen Worte der Absage sind wie ein Omen. Die Komponistin ist ein dreizehnjähriges Mädchen namens Phillipa Duke Schuyler. Und als ob das nicht schon unwahrscheinlich genug wäre, ist das Mädchen auch noch ein Mischling. Fast hätte Delia ihren Sohn mit einer Sicherheitsnadel durchbohrt, und selbst da protestiert Joey nicht. Sie glaubt, sie hätte sich verhört, bis David mit offenem Mund in der Tür erscheint, in den Augen ein Ausdruck angstvoller Bestätigung. »Einhundert Klavier-kompositionen, bevor sie zwölf war!«
Delia sieht ihren Mann an, und ihr ist, als seien sie dem Gefängnis entflohen, in das die Gesetze von einem Dutzend amerikanischer Bundesstaaten sie noch immer stecken würden. Das Mädchen hat einen IQ von 185. Konnte schon mit drei Jahren Klavier spielen und gab mit elf die ersten Konzerte. Ihre Jungen haben eine Pfadfinderin in diesem neuerfundenen Land. Der Kontinent existiert bereits, und er ist bewohnt.
Der Vater des Mädchens ist Journalist, die Mutter eine Farmerstochter aus Texas. Der Vater hat für den Courier einen Bericht über den Werdegang seines Wunderkinds geschrieben, mit allen Einzelheiten, und Delia treibt ein Exemplar auf. Die Grundsätze sind einfach. Frischmilch, Weizenkeime, Lebertran. Intensive Erziehung – Heimunterricht durch beide Eltern rund um die Uhr. Aber das eigentliche Geheimnis ist die alte Bauernweisheit, dass Kreuzung die Robustheit fördert. Das Grundprinzip der Viehzucht. Mischlingskinder – das kleine Genie beweist es – sind mit der Kombination ihrer Erbanlagen besser ausgestattet als beide ihre Eltern. Mr. George Schuyler geht sogar noch weiter. Kräftige Mischlingskinder sind die einzige Hoffnung des Landes, der einzige Ausweg aus der jahrhundertelangen Zerrissenheit, einem Riss, der im Laufe der Zeit sonst nur noch weiter auseinander klaffen kann. Allein für diese Zeilen wäre Mr. Schuyler in Mississippi hinter Gitter gewandert, verurteilt nach einem Gesetz, das nicht älter ist als seine Tochter. Aber für Delia sind seine Worte wie Manna in der Wüste.
Frischmilch und Weizenkeime, gemischte Rasse und täglich eine Dosis
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