Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
jemand in Not, ein Mädchen, eine Stimme, die sie kennt und doch nicht erkennt. Eine Stim-me kommt aus dem Chaos, ruft sie bei ihrem Namen, zerrt sie fort aus der Sicherheit, und sie kann nicht anders, sie muss ihr folgen.
    Delia geht nach draußen, nur ein paar Schritte den Bürgersteig hinunter, dieselben Schritte, die sie jeden Tag geht. Aber alles vor ihrem Sandsteinhaus sieht anders aus. Die glühend heiße Luft ist wie eine Mauer, aus allen Richtungen kommt der Chor der Sirenen, ein gespenstisches Heulen wie von verwundeten Tieren. Sie blickt ostwärts die Straße hinunter zu einem hell orangen Lichtschein am Himmel. Dahinter erhebt sich eine Rauchwolke, nach Süden hin. Sie hört ein dumpfes Grollen, Laute wie Meeresrauschen, und als ihre Ohren sich daran gewöhnt haben, erkennt sie, dass es schreiende Menschen sind.
    Große Gebäude stehen in Flammen. Der Lichtschein kommt aus der Richtung des Sydenham-Krankenhauses. Polizei-, Feuerwehr-, Luftschutzsirenen dröhnen, der erste echte Kriegslärm, seit es vor zwanzig Monaten begann. Harlem erhebt sich und gibt ein wenig von dem zu-rück, was es sein Leben lang hat einstecken müssen. Sie fragt jeden, der für sie stehen bleibt, was geschehen ist, aber keiner weiß es. Oder alle wissen etwas, nur keine zwei das Gleiche. Die Polizei hat einen Soldaten umgebracht, der seine Mutter verteidigte, hat ihn hinterrücks erschossen. Ein Trupp Polizisten hat sich im 28. Revier verschanzt. Es sind tausend Leute. Dreitausend. Zehntausend. Ein Feuergefecht auf der 136. Straße. Die Masse stürzt Autos um, traktiert sie mit Baseballschlägern. Straße für Straße rückt die Zerstörung nach Süden vor. Nein – nach Norden. Das Feuer kommt auf sie zu.
    Sie sieht, wie die Leute ihres Viertels sich zusammenrotten. Selbst in dieser Straße, die der Aufstand bisher nicht erreicht hat, drehen sich Gruppen hypnotisierter Zuschauer in engen, ängstlichen Kreisen. Ein paar jüngere Männer laufen in Richtung der Flammen, erfüllt von einer Wut, die unter dem Druck von Jahren hart geworden ist wie Diamant. Andere fliehen nach Westen in eine Stadt, die längst in Auflösung begriffen ist. Die meisten stehen einfach nur da, wissen nicht mehr, woran sie noch glauben sollen. Die Nacht ist ein Hexenkessel, die Luft schmeckt nach verbrannten Ziegeln. Sie dreht sich um, sieht ihre Häuserzeile an, und sieht ihr eigenes Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Das Bild ist so real, sie weiß, dass es Wirklichkeit ist. Sie fügt der von Schreien erfüllten Luft ihre eigenen hinzu und läuft, hält erst wieder inne, als sie im Haus ist, die Tür verschlossen, die Vorhänge vorgezogen.
    »Weg von den Fenstern«, sagt sie den Kindern. Sie ist verblüfft über ihre Ruhe. »Kommt, wir gehen alle zusammen in die Küche. Da ist es gemütlicher.«
    »Sie kommen hierher!«, ruft Mrs. Washington. »Sie kommen und stecken die guten Häuser an. Darauf haben sie's abgesehen.«
    »Ruhig. Sie sind noch meilenweit weg. Wir sind in Sicherheit hier.« Eine Lüge, das weiß sie. Die Vision – ihr Haus niedergebrannt und in Trümmern – ist in ihrem Inneren nun ebenso Wirklichkeit wie jede unabänderliche Vergangenheit. Sie sollten nicht hier in dieser tödlichen Falle hocken und nur warten, dass das Ende kommt und sie holt. Aber wohin können sie gehen? Harlem brennt.
    Die Jungs fürchten sich nicht mehr. Für sie ist diese Nacht ein Spiel, eines, bei dem alle Regeln außer Kraft gesetzt sind. Sie wollen Limonade. Sie wollen Eiswürfel. Delia holt ihnen alles. Sie und Jonah singen für Mrs. Washington zweistimmig »My country, 'tis of thee«, »Mein Land, von dir will ich singen«, und der kleine Joseph schlägt auf einem umgedrehten Kochtopf den Takt dazu.
    Sie huscht ins Wohnzimmer und horcht, und was sie hört, bestätigt ihre Angst: Die nächtlichen Rufe kommen näher. Sie verflucht David, dass er ausgerechnet in dieser Nacht so weit fort ist. Selbst wenn sie wüsste, wo er ist, würde sie ihn jetzt nicht erreichen. Dann fällt es ihr wieder ein, und sie preist ihr Glück. Wenn er in dieser Nacht hier gewesen wäre, wäre ihnen das allen zum Verhängnis geworden.
    »Nie wird sich für uns etwas ändern.« Mrs. Washington sagt es wie ein Gebet. »Für alle Zeiten wird es so bleiben.«
    »Bitte, Mrs. Washington. Nicht vor den Jungen.«
    Aber die beiden haben sich schlafen gelegt, jeder auf seinem eigenen Flickenteppich, weichen Inseln im Dielenmeer. Delia hält Wache, bereit mit ihnen durch die

Weitere Kostenlose Bücher