Der Klang der Zeit
ich hatte das Gegenteil getan. Robert zuckte mit den Schultern. »Die Leute von der Versicherung sind der Sache nachgegangen, so gut sie konnten. Davon kann man ausgehen. Aber als feststand, dass kein Betrug nachzuweisen war, war es für sie erledigt. Wie die Frau umgekommen war, interessierte sie nicht.«
»Ruth. Sei doch vernünftig. Du weißt, dass Pa keine Ruhe gegeben hätte, bevor der Fall aufgeklärt war. Nicht, wenn er auch nur das kleinste Indiz gehabt hätte. Auch nur die Spur eines Verdachts.«
Ruth starrte mich an. Ich ließ sie im Stich, schlug mich auf die Gegenseite. Aber sie brauchte noch immer etwas von mir, ich wusste nicht was. »Der Mann ist weiß. Er hat überhaupt keinen Begriff von den wahren Verhältnissen. Für ihn musste es ein Unfalltod sein. Sonst hätte er ihr Leben auf dem Gewissen gehabt.«
Und für Ruth musste es genauso dringend das Gegenteil sein. Mama ermordet, von jemandem, den wir nie finden würden. Jemandem, der uns womöglich nicht einmal gekannt hatte. Das war die einzige Deutung, die ihr das Weiterleben möglich machte. Ich schob den Stoß Papiere zusammen, ihr Beweismaterial. »Was wollt ihr jetzt damit machen?«
Sie sahen sich an, zu erschöpft für Erklärungen. Ruth schüttelte den Kopf, senkte den Blick. Robert schnitt eine Grimasse. »Kein Schwarzer bekommt so einen Fall vor Gericht.«
Plötzlich hatte ich das Gefühl, sie wollten, dass ich Pa – einen Weißen – dazu brachte, dafür zu sorgen, dass das Verfahren neu aufgerollt wurde. »Aber was wollt ihr denn da von mir?« Ich hörte, wie die Worte hervor-kamen, und konnte sie nicht mehr ungesagt machen.
Ruth presste sich die Faust an die Lippen. »Keine Sorge, Joey. Von dir wollen wir überhaupt nichts.« Robert rückte ein Stück zur Seite. Er blickte zwischen ihnen beiden zu Boden, als sei ihm etwas heruntergefallen. Plötzlich bewunderte ich diesen Mann einfach nur dafür, dass er bereit gewesen war, mit hierher zu kommen. »Wir dachten nur, du willst sicher gerne wissen, wie deine Mutter ...« Ruths Stimme brach. Sie nahm mir die Blätter aus der Hand und verstaute sie wieder in ihrer Tasche.
»Wir müssen es Jonah sagen.«
Eine Mischung aus Hoffnung und Hass spielte in den Augen meiner Schwester. »Warum? Damit er mich auch für verrückt erklären kann, so wie sein kleiner Bruder?« Ihre Lippe zitterte, und sie biss darauf, um sie daran zu hindern.
»Er kann einfach klarer ... Er will sicher wissen, wie du darüber denkst.«
»Warum?«, fragte Ruth noch einmal, ihr Ton jetzt reine Verteidigung. »Schon seit Jahren versuche ich, ihm etwas in dieser Art zu sagen. Ich kann ihm ja nicht mal guten Tag sagen, ohne dass er mir in den Hintern tritt. Der Mann kann mich nicht ausstehen.«
Ihr Mund war zerknittert wie ein zerbeultes Auto. Ihre Augen wurden feucht, und ein glitzerndes Rinnsal lief ihr über die walnussbraune Wange. Ich fasste ihre Hand, und sie zog sie nicht zurück. »Das ist nicht wahr, dass er dich nicht ausstehen kann, Ruth. Er findet nur einfach, du –«
»Weißt du, wie das war, das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe?« Sie wies auf ihre neue Frisur. »Er hat gesagt, ich sähe aus, als ob ich bei Motown im Background-Chor sänge. Ich klänge wie Che Guevaras Tagebuch. Er hat mich ausgelacht.«
»Das war der reine Übermut. Du kennst doch Jonah ...« Aber ich war noch nicht halb mit dem Satz zu Ende, als ich begriff, was sie da sagte. »Moment. Das heißt, ihr habt euch in der letzten Zeit gesehen?« Sie wandte den Blick ab. »Er hat mir ... du hast kein Wort davon gesagt!« Ich zog meine Hand zurück. Sie tastete, wollte sie wieder finden.
»Joey, es waren nur fünf Minuten. Und es war eine Katastrophe. Ich konnte nicht ein Wort mit ihm sprechen. Er brüllte mich schon an, bevor ich –«
»Einer von euch zweien hätte es mir sagen können. Ich dachte, dir ist etwas zugestoßen. Ich dachte, du bist in Schwierigkeiten, jemand hat dich ...«
Sie ließ den Kopf hängen. »Tut mir Leid.«
Ich sah sie an. Das kleine Mädchen, das »Bist du bei mir« auf der Totenfeier seiner Mutter gesungen hatte. »Ruth. Ruth.« Noch eine Silbe, und ich konnte nicht mehr.
Sie sah mich nicht an, sondern suchte in ihrer Tasche nach dem Porte-monnaie. Bezahlen und dann nichts wie weg. Doch dann hielt sie inne und schluchzte: »Joey, komm doch mit.«
Ich sah sie mit großen Augen an, machte eine fragende Geste. Jetzt? Ich wandte mich an Robert. Seine Miene schien zu sagen: Wenn nicht
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