Der Klang der Zeit
alles, was dort seit 1812 geschehen war. Die Schlacht auf der Vierzehnten Straße konnte nur mit Hilfe von dreizehntausend Bundessoldaten eingedämmt werden. Die Stadt ver.-hängte eine Ausgangssperre und erklärte den Ausnahmezustand. Der Bürgermeister von Chicago forderte seine Polizisten auf, rücksichtslos auf die Randalierer zu schießen. Der Gouverneur von Maryland rief den permanenten Ausnahmezustand aus, als ein Viertel von Baltimore in Flammen aufging. In Kansas City schleuderte die Polizei Benzinkanister in eine wütende Menge, die protestierte, weil die Schulen zur Beer-digung von King nicht geschlossen blieben. Nashville, Oakland, Cinci-nnati, Trenton: überall Aufstände.
Der vierte Sommer der Gewalt in Folge: Die Revolution war da. Und Jonah und ich standen daneben und sahen zu, als sei es eine Matineeaufführung von Verdis Requiem. Unsere Konzerte in Pittsburgh und Boston wurden abgesagt, und es gab nie einen neuen Termin – Opfer in einem Konflikt, in dem Musik nicht einmal eine Statistenrolle spielte. Was konnten ein bisschen Gesang und Tanz schon ausrichten gegen die herausragendste Kunstform des Landes?
Seit einigen Monaten schon war mir unser Leben immer unwirklicher vorgekommen. Jetzt verlor ich jedes Gefühl dafür, was wirklich über-haupt bedeutete. Jonah wusste es. »Es geht los. Schluss mit dem Ver-steckspiel. Offener Kampf, Stamm gegen Stamm – das ist es doch, was alle wollen. Etwas woran man sich festhalten kann. Seit einer Million Jahren bringen wir uns gegenseitig um, und immer geht es darum, wer dazugehört und wer nicht. Warum sollten wir das jetzt ändern?«
Mein Bruder hatte nie ein allzu komplexes Menschenbild gehabt.
Jetzt hatte er es auf einen einzigen Punkt reduziert. Die Menschen wollten lieber in eingebildeter Sicherheit sterben, als in beflügelnder Angst leben. Er hatte genug gesehen. Jonah kehrte dem Feld der irdischen Politik endgültig den Rücken, und nichts, was ich tat, konnte ihn zur Umkehr bewegen. Jeder neue Tag bestätigte ihn nur in seiner Überzeugung. Wir alle wussten nicht, was wir mit unserem Leben anfangen sollten, so wie das Leben nun einmal war.
Wir waren in einem geliehenen Impala unterwegs zu einem Konzert in Storrs, Connecticut – gerade so hellhäutig, dass wir nicht angehalten und durchsucht wurden –, als Jonah sich vom Beifahrersitz zu mir herüberlehnte und mir zuflüsterte: »Ich weiß, warum sie ihn umgebracht haben.«
»Wen meinst du mit ›sie‹?«
»Sie haben ihn umgebracht, weil er so deutlich gegen Vietnam gesprochen hat.«
»Viet –, du spinnst ja.«
Er machte eine weit ausholende Handbewegung, so weit wie die Straße vor uns. Gefahr auf allen Seiten. »Denk an seine Angriffe, letztes Jahr. ›Amerika ist der weltweit größte Lieferant von Gewalt.‹ Schwarze werden losgeschickt, um Gelbe zu töten. Jetzt tu nicht so. Zeig mir den Mann, der Macht hat und sich von so einem Negerprediger das Spiel vermasseln lässt.«
Ich nahm den Fuß vom Gas. »Willst du damit sagen, die Regierung ... Die CIA ...« Ich kam mir vor wie ein Idiot, als ich diese Buchstaben aussprach.
Jonah zuckte die Achseln. Ihm war es egal, welches Akronym den Finger am Abzug gehabt hatte. »Sie brauchen den Krieg, Joey. Er ist wie ein Hausputz. Die Mächte des Guten. Die Welt sicher machen. Folgsam, strebsam, gemeinsam.«
Die Haut in meinem Nacken erstarrte zu einem Schuppenpanzer. Er war den gleichen Weg gegangen wie das gesamte Land. Mit seinem üblichen Sinn für effektvolle Auftritte hatte mein Bruder den letzten kleinen Schritt flussaufwärts getan. Aber etwas in mir atmete auf bei seinen Worten. Wenn er nun ebenfalls dort angekommen war, dann gab es keinen Konflikt mehr. Ruth konnte zurückkehren. Ich konnte ihr erzählen, was mit ihm geschehen war. Wir konnten zusammen sein, alle drei, so wie noch nie zuvor. Keine Feinde außer der ganzen Welt. Und ich würde glauben, was immer die beiden mir erzählten.
Mir setzte der Krieg nicht so sehr zu; hauptsächlich wollte ich ihm entgehen. Aber jetzt starben deswegen Menschen in 125 Städten. Bei je-er langen Autofahrt suchte Jonah im Radio nach Protestsongs. Er verwob ein kontrapunktisches Dies Irae mit den Melodien aus dem Radio, as gleiche Talent, das schon meine Eltern bei der abendlichen Hausmusik in Erstaunen versetzt hatte, so sehr, dass sie glaubten, es sei ihre Pflicht, ihn auf ein Internat zu schicken. Die fatale Leichtigkeit, die ihm das Leben schwer machte. Und wenn die drei, vier
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