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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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schüttelte nur den Kopf, zurückhaltend, beinahe ängstlich.
    T. Wests Vorwurf schlug ein wie eine Bombe. Crispin Linwell beeilte sich, in einer Erwiderung im Gramophone zu beteuern, dass die Frage der Hautfarbe nicht das Geringste damit zu tun habe, wie er eine Interpretation von klassischer Musik beurteile. Er habe mit Dutzenden von schwarzen Künstlern gearbeitet, sogar ein oder zwei engagiert. Die Zeitungen, die auf diesen Zug aufsprangen, argumentierten in der Regel ebenso: Rasse sei kein Thema in der Konzertszene. Es komme allein auf das Talent an. Die Meisterwerke der klassischen Musik kennten keine Hautfarbe und kümmerten sich nicht um solche Nebensächlichkeiten. Jeder könne vor diesem Altar beten.
    »Genau das haben unsere Eltern auch geglaubt«, sagte Jonah und las weiter.
    Ein Leitartikel im Chicago Defender dankte dem weißen Kulturestab-lishment für seine Farbenblindheit. »Und farbenblind müssen sie sein, wenn die kulturellen Eliten mit Blick auf das Klassikpublikum behaupten, dass Rasse kein Thema ist, wenn es um zeitlose Wahrheiten geht. Aber in einem verdunkelten Konzertsaal sind natürlich alle Katzen grau.« Selbst dieser Leitartikel erwähnte Jonahs Gesang mit keinem Wort, erklärte ihn lediglich zu einem »nicht versiegenden Quell des Erstaunens«, was immer das heißen sollte.
    Wochenlang ging unsere Platte so gut, als hätten wir sie bei einer der großen Firmen herausgebracht. Wir bekamen Briefe, die uns rieten, bei unserer Urwaldmusik zu bleiben. Wir bekamen Briefe, die uns Mut machten nicht aufzugeben und dem toten Zeug auch weiterhin neues Leben einzuhauchen – kämpferische, enthusiastische Briefe von Hörern, über deren Gesichter, deren Hautfarbe wir nichts wussten. Aber wer konnte zu dem Zeitpunkt noch sagen, was jemand in unsere Musik hineinhörte? Ich hasste unsere Berühmtheit und glaubte immer noch, wenn erst einmal Gras über die ganze Aufregung gewachsen sei, könnten wir in das Reich der reinen Musik zurückkehren. Bis zum Schluss glaubte ich an die Existenz eines solchen Ortes.
    Aber der Wirbel um Linwell hatte offenbar auch unseren Fluch gebrochen. Ich hatte Unruhen erwartet, die Strafe dafür, dass wir wieder einmal versucht hatten, die Zeit anzuhalten. Dieser Sturm im Wasserglas, ausgetragen in ein paar auflagenschwachen Zeitschriften, die sich einer aussterbenden Kunst widmeten, war alles, was unsere Plattenaufnahme diesmal auslösen sollte. Ich war ein Dummkopf gewesen, ein Träumer. Jetzt ging mir auf, wie eitel ich war mit meiner alten magischen Vorstellung, das Schicksal der Welt hänge davon ab, ob ich beim Gehen auf die Fugen zwischen den Steinplatten trat.
    Dann wurde King ermordet. Er starb auf dem Balkon des Lorraine Motel in Memphis, nur ein paar Blocks südlich der Beale Street, am Tag, nachdem er in einer Rede verkündet hatte, er habe auf dem Gipfel des Berges gestanden – I've been to the mountaintop. Die Stimme der Ver-söhnung wurde auf die einzig mögliche Weise zum Schweigen gebracht. Er hatte einen Streik der Müllarbeiter angeführt, jetzt war er Vergan-genheit. How long? Not long. Ich hörte die Nachricht im Radio, als ich gerade die Wohnung sauber machte. Der Ansager war fassungsloser unterbrach eine Sendung mit Höhepunkten aus Donizettis Lucia di Lammermoor, und statt die Musik langsam auszublenden, drehte er sie einfach ab und gab mit stockender Stimme die Nachricht bekannt. Danach wusste er offenbar nicht weiter. Die Rückkehr zu Donizetti war unmöglich, auch wenn Dr. King seine Musik immer besonders geliebt hatte. Das Schweigen dauerte so lange, dass ich mich schon fragte, ob der Sender womöglich ganz den Betrieb eingestellt hatte. Tatsächlich war der Ansager einfach ins Plattenarchiv gegangen, um dort nach einer passenden Totenklage zu suchen. Aus Gründen, die nur er kannte, wählte er William Billings' schlichtes, unbeholfenes Klagelied Davids: »Wär ich doch tot an deiner statt, oh Absalom, mein Sohn, mein Sohn.«
    Ich schaltete das Radio aus und ging nach draußen. Es war schon dunkel. Unwillkürlich lenkte ich meine Schritte in Richtung Norden. Die Straßen wirkten so unverändert, so normal, obwohl die meisten Passan-ten es gewiss schon gehört hatten. Ich ging einfach aufs Geratewohl, suchte nach Jonah, wollte ihm entgegenlaufen, um es ihm zu erzählen.
    Die ersten Molotowcocktails flogen in Memphis, eine Stunde nach dem Attentat. Am Ende der Woche herrschte in 125 Städten Krieg. Die Feuer in Washington waren schlimmer als

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