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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Beinen und will sie hören. Dafür hat das Verbot gesorgt. Von nun an wird Farbe immer das Leitmotiv ihres größten Triumphs sein, der Grund weswegen man sich ihrer erinnert, wenn ihre Stimme längst verhallt ist. Sie hat diesem Schicksal nichts entgegen-zusetzen, nichts als den Klang ihrer Musik. Sie öffnet die bebenden Lippen und macht sich bereit, ihre Stimme ganz Farbe, das Einzige, wovon zu singen sich lohnt.
    Aber in der Zeit, die sie braucht, um diesen ersten Ton zu formen, gleitet ihr Blick über das Publikum und findet kein Ende. Sie sieht die Bilder, die auch die Wochenschaukamera sieht: 75000 Konzertbesucher, der größte Menschenauflauf, den Washington seit Lindbergh erlebt hat, das größte Publikum, das je zu einem Solokonzert gekommen ist. Millionen werden ihren Auftritt im Radio verfolgen. Millionen werden ihn auf Platte oder im Kino hören. Ehemalige Töchter und Stieftöchter der Republik. Die, die als Eigentum eines anderen zur Welt gekommen sind, und die, die ihre Eigentümer waren. Alle Gruppen, jede mit ihrer selbst bemalten Fahne, alle, die Ohren haben, werden hören.
    EINE LEKTION IN TOLERANZ FÜR DIE NATION, wird die Wochenschau verkünden. Aber Nationen sind unbelehrbar. Was immer dieser Tag an Toleranz aufgeboten hat, wird den Frühling nicht überdauern.
    In der Ewigkeit, die der ersten Note vorausgeht, spürt sie, wie eine ganze Armee von Leben zu ihr hindrängt. Alle, die ihr jemals Mut zum Singen gemacht haben, sind gekommen. Ronald Hayes steht irgendwo in der Menge. Harry Burleigh, Sissieretta Jones, Elizabeth Taylor-Greenfield – die Geister all derer, die ihr vorangegangen sind, finden sich ein, um an diesem kühlen Ostertag wieder die Mall entlangzuspa-zieren. Blind Tom ist da, der blinde Sklave, der seinem Besitzer ein Vermögen einbrachte, weil er zur Verblüffung seines Publikums die schwersten Stücke aus dem Klavierrepertoire nach dem Gehör spielen konnte. Joplin ist hier, die Fisk Jubilee Singers und die Hampton Singers, Waller, Rainey, King Oliver und Kaiserin Bessie, ganze Gospelchöre, alle, die jemals auf den Feldern gesungen oder den Blues gespielt haben, jugbands, gutbucketers, hollerers, field callers – all die namenlosen Genies, die ihre Rasse hervorgebracht hat.
    Ihre Familie ist da, ganz vorne, wo sie sie sehen kann. Ihre Mutter starrt hinauf zu Lincoln, dem finsteren, stummen Titanen, entsetzt über die Bürde, die ihre Tochter für das gesamte Land tragen muss, jetzt und für alle Zeit. Ihr Vater ist ihr sogar noch näher, er ist in ihr, in Gestalt seiner Stimmbänder, die den weichen Bass dieses Mannes in sich tragen, eines Mannes, der verstummte, bevor sie ihn wirklich kannte. Sie hört ihn noch immer, wie er sang, »Asleep in the Deep«, wenn er sich für die Arbeit fertig machte, immer nur die erste Zeile, unendlich zärtlich, auch wenn er die Strophe niemals zu Ende brachte.
    Die gewaltige Menge, ihre Anziehungskraft, lässt den ersten Ton zerspringen. Das Tempo verlangsamt sich, von Allegro zu Andante zu Largo. Ihr Verstand arbeitet fieberhaft und teilt die Noten in der Einlei-tung ihres ersten Stücks; Achtel wird zu Viertel, Viertelnote zur halben, halbe Note zur ganzen, und die ganze Note unendlich. Sie hört sich einatmen, und der Atemzug weitet sich zum Stillstand. Sie macht die Note fertig für die Reise, aber die Zeit bleibt stehen und hält sie fest, reglos.
    Als der winzige Flügel seine Melodie anstimmt, öffnet sich vor ihr ein Loch. Sie blickt hindurch und kann die kommenden Jahre sehen, als läse sie einen Eisenbahnfahrplan. Der schmale Streifen Bundesterritorium ist ein Sinnbild der langen Reise, die vor ihr liegt. Der heutige Tag verändert nichts. Heute in vier Jahren wird sie vor dem Bahnhof von Birmingham, Alabama, sitzen und warten, dass ihr Klavierbegleiter, ein deutscher Flüchtling, ihr ein Sandwich bringt, während deutsche Kriegsgefangene aus Nordafrika den Wartesaal bevölkern, den sie nicht betreten darf. Man wird ihr die Schlüssel von Atlantic City überreichen, wo sie vor ausverkauften Häusern auftritt, aber ein Zimmer kann sie nicht buchen in dieser Stadt. In Springfield, Illinois, wird sie bei der Premiere von Der junge Mr. Lincoln singen, aber den Zutritt zum Lincoln–Hotel wird man ihr verwehren. Alle künftigen Demütigungen sieht sie voraus, jetzt und für alle Zeit, sie schweben über dieser endlosen Menge von Bewunderern, jetzt, da der Augenblick für ihren Einsatz kommt.
    Die Töchter der amerikanischen Revolution

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