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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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werden ihren Irrtum bereuen, aber die Reue kommt zu spät. Nichts kann das Unrecht dieses Tages ungeschehen machen. Sie muss ihn durchleben, muss für alle Zeiten hier draußen im Freien stehen und im Mantel singen, gratis. Ihre Stimme wird untrennbar mit diesem Ort verbunden sein. Sie wird für immer zum Sinnbild, gegen ihren Willen, und nicht für die Musik, die sie zu der ihren gemacht hat.
    Diese Gesichter – Tausende und Abertausende – recken sich ihr entgegen, Osterblumen, die das Vergangene hinter sich lassen wollen und die Frühlingssonne suchen. Die bis zu diesem Nachmittag in hoffnungsloser Hoffnung verharrten, drängen sich jetzt an den Ufern des Jordan: zu viele für nur eine Überfahrt. Es werden immer mehr, selbst in diesem Augenblick noch, wo sie hinaus zu den äußersten Rändern blickt. Im Konvexspiegel von 75 000 Augenpaaren sieht sie sich selbst, verschwindend klein am Fuße gewaltiger Säulen, eine winzige dunkle Bittstellerin zwischen den Knien eines steinernen Riesen. Das Bild ist vertraut, ein Schicksal, das sie schon kannte, bevor sie es durchlebte. Ein Vierteljahrhundert später wird sie wieder hier stehen und die Stimme erheben, vor einer Menschenmenge, die dreimal so groß sein wird. Und wieder wird diese hoffnungslose Hoffnung sie überfluten, dieselbe Wunde, die einfach nicht heilen will.
    Am Ende einer Weltlinie sieht sie, wie binnen zwanzig Minuten das Publikum die Bühne stürmen und sie erdrücken wird, 75 000 Erweckte, die der Erlösung ein paar Schritte näher sein wollen. Menschen, die ihr Lebtag mit den billigen Plätzen vorlieb nehmen mussten, werden auf die Bühne drängen, die jetzt ganz ihnen gehört; die Befreiung wird sie zu sich selbst treiben, zu einer Stimme, die vollkommen frei ist, und sie werden sie zu Tode trampeln. Sie sieht, wie das Konzert auf eine Katastrophe zusteuert, eine Massentragödie der Sehnsucht. Dann blickt sie einen anderen der vielen verzweigten Pfade dieses Tages hinunter und sieht, wie Walter White sich erhebt und an die Mikrofone tritt, wie er die Menge zur Ruhe mahnt. Seine Stimme spaltet die Masse wieder in ihre Atome, bis es nur noch viele einzelne Menschen sind, die ihr nichts Schlimmeres antun können, als sie zu lieben.
    Ozeane entfernt von dieser Menge versammeln sich noch größere Massen. Sechs Stunden weiter, sechs Zeitzonen östlich von hier, wird es bereits dunkel. Auf den Plätzen und Märkten, in den alten Theatervierteln, wo sie aufgetreten ist, auf den Bühnen, die sie nicht engagieren wollten, ertönen Stimmen. Sie sieht die einzig verfügbare Zukunft der Welt, und die Gewissheit verschlingt sie. Sie wird nicht singen. Sie kann nicht. Sie wird an diesem ersten Ton hängen bleiben und zugrunde gehen. Die Türen fallen ins Schloss, eine nach der anderen, bis sie nur noch einen Ausweg hat: Sie muss kehrtmachen und weglaufen. Sie wirft einen panischen Blick zurück zu der Brücke über den Potomac, auf die andere Seite des Flusses nach Virginia, der einzige Fluchtweg. Aber es gibt keine Zuflucht. Keine Zuflucht hier auf Erden.
    Ein mädchenhaft lyrischer Sopran in ihrem Inneren stimmt sein bestes Schutz- und Trutzlied an. When you see the world on fire, fare ye well, fare ye well. Wenn die Welt in Flammen steht, dann steh auf, dann steh auf. Sie greift zum Allheilmittel der bühnenerprobten Sängerin. Den Blick fest auf ein bestimmtes Gesicht richten, die Menge auf eine einzelne Person reduzieren, eine Seele, die bei dir ist. Dann kann nichts passieren.
    Weit hinten in der Menge, eine Viertelmeile entfernt, findet sie ihr Ziel, das Gesicht, für das sie singen wird. Ein junges Mädchen, ein Mädchen, das aussieht wie sie in jüngeren Jahren, Maria an dem Tag, an dem sie Philadelphia verließ. Diese Seele erwidert ihren Blick, singt selbst schon sotto voce. Das Mädchen beruhigt sie. In der erstarrten Fermate vor ihrem Einsatz ruft sie sich noch einmal das Programm des Konzerts ins Gedächtnis. »Gospel Train« und »Trampin'« und »My Soul Is Anchored in the Lord«. Aber davor kommt Schuberts »Ave Maria«. Und vor dem Schubert »O mio Fernando«. Später wird sie sich nicht erinnern, dass sie auch nur ein einziges aus diesem bunten Strauß von Liedern gesungen hat. Es wird sein, als habe ein Phantom an ihrer Stelle auf der Bühne gestanden, als sei sie gar nicht dabei gewesen. Viel später erst wird sie lesen, wie sie gesungen hat; wird aus Zeitungsausschnitten erfahren, wie es war, lange danach, wenn alles längst vorüber

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