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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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genoss die chromatische Abwärtsbewegung, die hämmernden gefühlsgeladenen Oktaven. Nach ein paar Takten verzog Mr. Silber das Gesicht und winkte ab.
    »Nein, nein. Spiel mir das hübsche. Das mit dem Streichquartett.« Er summte die ersten drei Noten von »Yesterday« mit einer Schmalzigkeit, die drei Jahre zu spät war oder dreißig zu früh. Ich hatte die Melodie Tausende von Malen gehört, aber noch nie selbst gespielt. Da saß ich also im Glimmer Room, auf dem Höhepunkt meines musikalischen Kön-nens. Ich hätte jeden Satz jedes Mozart-Klavierkonzertes nach dem Gehör nachspielen können, hätte es welche gegeben, die ich nicht längst kannte. Das Problem mit Popsongs, wenn ich einmal einen davon zur Erholung zwischen Etüden auf dem Klavier spielte, war, dass ich ganz automatisch die Akkordfolgen ausschmückte. »Yesterday« kam als Mischung von barockem Generalbass und Kirmesorgel heraus. Ich kaschierte meine Unsicherheit mit einer Folge von Läufen. Mr. Silber muss es wohl für Jazz gehalten haben. Er setzte ein typisches Showbiz-Lächeln auf, als ich am Ende angekommen war. »Ich zahle dir hundertzehn Dollar die Woche plus Trinkgeld und so viel Ginger Ale zum halben Preis wie du trinken kannst.«
    Es schien mir eine Menge Geld, im Vergleich zu dem, was ein Tellerwäscher bekam. Ich versuchte gar nicht zu handeln. Ich unterschrieb den Vertrag, ohne jemanden um Rat zu fragen. Ich schämte mich zu sehr, ihn Milton Weisman vorzulegen, dem ja in einer gerechteren Welt ein Anteil zugestanden hätte.
    Ich mietete eine Einzimmerwohnung, von der aus ich zu Fuß zum Glimmer Room gehen konnte. Ich ließ die Sachen aus unserem Village-Apartment kommen; den Flügel ließ ich zu meinem Vater bringen. Jetzt hatte er zwei Klaviere und niemanden, der daraufspielte. Unser altes Radio fand einen Platz neben dem Bett, und ich stellte einen Hitparaden-sender ein. Mit meinen ersten beiden Wochengagen kaufte ich mir einen ganzen Mülleimer voller Langspielplatten – kein einziger Song älter als 1960. Und damit begann meine Lehrzeit in echter Kultur.
    Ich trat von acht Uhr abends bis drei Uhr morgens auf, mit zehn Minuten Pause pro Stunde. Mein Repertoire in den ersten Wochen war dürftig. Mr. Silber machte mir Vorhaltungen, weil ich zu viele alte Stücke spielte. »Nicht immer nur Sachen für alte Leute. Nix Gershwin. Gershwin ist für Greise, die sich beim Hufeisenwerfen in den Catskills den Hexenschuss geholt haben. Ich will diese neuen Sachen, die modernen Sachen.« Der Mann vollführte einen kleinen Tanz, den er wohl für Twist hielt. Wäre ich in der Lage gewesen, ihn in ohrenbetäubenden »Purple Haze« zu hüllen, hätte ich es gespielt, bis Mr. Silber um ein wenig Irving Berlin gefleht hätte.
    In einem einzigen Monat lernte ich mehr Melodien, als ich je wieder lernen würde. Ich konnte mir den ganzen Nachmittag Funk, Folk oder Fusion anhören, und am Abend legte ich dann ein passables Imitat davon vor. Mit den Noten hatte ich nie Schwierigkeiten. Schwierigkeiten hatte ich, meine eigenen Versionen so swingend, so beweglich zu halten wie die Originale. Bis Mitternacht klang ich jämmerlich bieder. Aber dann sorgte die Erschöpfung dafür, dass ich den Groove fand. Die Melodien, die ich bis in die frühen Morgenstunden spielte, hatten eine Tendenz zu Harmonien, die außerhalb ihrer Reichweite lagen. Ich ließ ihnen diese Sehnsucht, rau, schmachtend, nie aufzulösen.
    Ich brauchte Monate im Glimmer Room, bis ich begriff, dass die meisten Menschen von der Musik keine Erhabenheit, sondern einfach nur Gesellschaft wollten; sie wollten eine Melodie genauso erdenschwer wie sie selbst, fröhlich unter der drückenden Last des Daseins. Letzten Endes wünschen wir uns, dass unsere Freunde so unbedarft sind wie wir selbst. Unter allen Melodien leben nur die für immer in den Herzen ihrer Hörer, die uns vergessen lassen.
    Wenn ich nicht spielte, hörte ich Radio. Ich hatte zwei Leben, die ich aufholen musste. Jetzt wo mein Bruder am anderen Ende der Welt war, konnte ich den ganzen Tag über Ohrwürmer summen. Als ich erst einmal meine innere Uhr überwunden und mich auf den Rhythmus der Nachteule eingestellt hatte, konnte ich bis tief in die Nacht spielen und musste trotzdem nicht fürchten, dass jemand mich hörte. Manchmal fühlte die Klaviatur sich wie eine Pappattrappe an, so wie Lehrer in armen Schulen sie im Unterricht benutzen. Selbst wenn nicht viel los war, herrschte im Glimmer Room ein solcher Lärm aus Gläserklirren,

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