Der Klang der Zeit
Buh-rufen, beifälligen Pfiffen, heiserem Lachen, Raucherhusten, Kellnerinnen, die ihre Bestellungen zur Bar hinüberriefen, der Klimaanlage, die an– und wieder ausging, und dem diffusen Gemurmel anzüglicher Bemerkungen, dass kein Mensch mich hören konnte, selbst wenn er es in einer sentimentalen Anwandlung versucht hätte. Ich war einfach Teil des Ambiente. Genau das wünschte sich Mr. Silber. Ich sollte ja den Deckel des Konzertflügels nicht einmal einen Spalt weit öffnen. Manchmal, wenn ich über die Tasten gebeugt saß, war ich mir nicht sicher, ob das Instrument überhaupt Töne hervorbrachte.
Trotzdem fühlte ich mich wie ein Betrüger, wenn ich zwei Nächte hintereinander einen Titel auf exakt die gleiche Weise spielte. Man wusste ja nie, was jemand zufällig mitbekam. Jeden alten Trick der Barpianisten erfand ich neu, bis zurück in Sklavenzeiten. Eine unterkühlte Version von »Misty«. Ein leicht missgestimmtes »I Feel Good«. Ein »Love Child«, das gerade die Vaterschaftsklage fallen gelassen hatte.
Der Glimmer Room war weiß, so weiß wie die Fassade, die der sterbende Vergnügungsort Atlantic City nach außen hin präsentierte. Aber auch er wollte nicht Teil des allgemeinen weißen Sterbens sein. Für die Dauer eines Abends wollten die aufgeputzten, zahlungskräftigen Gäste dem langen Siechtum entfliehen, der Rechtschaffenheit, die ihnen über Generationen den Rücken gestärkt und ihre Privilegien gewahrt hatte. Für eine Nacht wollten sie dies alles hinter sich lassen. Sie sahen mich und sehnten sich nach dem Blues, der fünfzehn Jahre zuvor aus den Tanzlokalen verschwunden war. Und selbst wenn bei dem allgemeinen Geräuschpegel nur die Hälfte der Noten zu ihnen durchdrang, waren sie doch überzeugt, dass sie echte Soul-Klänge hörten.
Ich versuchte ihren Geschmack zu treffen. Dabei halfen mir nur ein verstimmtes Klavier und eine abgebrochene Ausbildung in Juilliard. Zum Glück ist der Werkzeugkasten der Musik nicht groß. Alles hängt irgendwie zusammen, alles kommt von überallher. Es gibt keine zwei Lieder, die nicht mindestens entfernte Vettern in einer Familie voller Inzucht sind. Eine erhöhte Terz oder eine übermäßige Quinte, eine verminderte None, ein paar Synkopen hier, eine unerwartete Achtelnote da, und jede Melodie schafft den Sprung über die Grenze. Die nächtliche Musik in einer belebten Bar kannte nicht nur zwei Farben; sie hatte mehr Schattierungen und Zwischentöne als der bunteste Malkasten. Wenn die Supremes das Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach interpretieren konnten, dann konnte ich es auch mit den Supremes versuchen.
Wochenlang verschwand ich in der Geborgenheit meiner sicheren Ecke im Glimmer Room, hinter einer Klavierlampe, einem großen Glas Ginger Ale und dem Glas für Trinkgelder mit ein paar kecken Dollarscheinen als Köder. Meine Handgelenke heilten, und ich fühlte mich wohl in der Anonymität. Mein größter Feind war die Zeit gegen zwei Uhr früh, wenn ich mich fühlte wie vor eine Wand gelaufen, wenn ich verzweifelt überlegte, was ich noch spielen sollte, und meine Finger nicht mehr spürte. Es kam vor, dass ich mitten in einem Stück von einem Vorstadt-quintett, das sich einbildete, es hätte die Submediante erfunden, völlig den Faden verlor. Meine Finger spielten auch dann noch weiter, wenn ich vergessen hatte, wohin die Reise ging, und durch freie Assoziation gelangte ich schließlich zu halb vergessenen Czerny-Etüden. Aus Man-gel an Material versah ich die Seufzer der unerwiderten Liebe mit Augmentationen und Diminutionen, mit Stretti und Inversionen, als kämen sie geradewegs aus dem Wohltemperierten Klavier. Ich holte alte Schubertlieder, die ich für Jonah gespielt hatte, aus der Versenkung, präsentierte sie wie Hits aus den Top 40, und mit diesem erweiterten Repertoire rettete ich mich über die Runden, bis das Lokal schloss. Anschließend ging ich nach Hause in meine Wohnung und schlief bis zum Nachmittag.
Wenn ihm mein Melodiengemisch zu exotisch wurde, pfiff Saul Silber mich zurück. »Spiel die Sachen, die das Jungvolk hören will.« Mit »Jung-volk« meinte er die betuchten mittelalten Paare, Enddreißiger auf der Suche nach Atmosphäre in dieser Welt des leeren Scheins. »Spiel die Schokoladenmusik. Das Mahagonizeug.« Silber bestellte Musik wie ein Innenarchitekt Bücher für die Bibliotheken neureicher Emporkömmlinge: nach Größe und Farbe.
Silbers Mahagonizeug war so schwülstig und üppig, dass ich ihm kaum gerecht
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