Der Klang der Zeit
werden konnte. Nur manchmal, kurz vor Schluss, wenn die ganz Unermüdlichen eine allerletzte Runde bestellten, ging ich auf seine Wünsche ein und verlor mich ganz darin. Ich unterlegte die Melodie mit überraschenden Begleitstimmen, bis ich mich in die Wohnung meiner Kindheit zurückversetzt fühlte, vor dem Brand, als meine Mutter und mein Vater alle Melodien und alle Epochen einträchtig miteinander verbanden. Mir war, als säße ich neben Wilson Hart am Klavier, in einem Übungsraum in Juilliard, auf der Suche nach den verborgenen Wurzeln der Musik. Dann, eines Nachts, als meine Finger schon beinahe aus eigenem Antrieb den Weg zurück zur Quelle all dieser Improvisationen suchten, dem entflohenen Sklaven, blickte ich auf und entdeckte ihn, ganz für sich, den ersten Schwarzen im Glimmer Room, von den Tellerwäschern und dem Klavierspieler abgesehen.
Er wirkte massiger als bei unserem letzten Treffen vor beinahe zehn Jahren. Sein Gesicht war voller und trauriger, aber seiner Kleidung nach zu urteilen hatte er es zu etwas gebracht. Ein leichtes, melancholisches Lächeln umspielte seine Lippen, und er lauschte als Einziger jeder Note, die ich spielte. Der Anblick des Mannes verblüffte mich so sehr, dass ich mitten im Akkord innehielt und einen Freudenschrei ausstieß. Ich richtete mich auf dem Klavierhocker auf. Wilson Hart, der Mann, der mir das Improvisieren beigebracht hatte, hatte mich aufgespürt, hier an diesem gottverlassenen Ort, hatte mich gefunden, wo ich mich nicht einmal selbst finden konnte.
Meine Finger setzten sich wieder in Bewegung, stolpernd vor Scham. Ich hatte ihm ein Versprechen gegeben, damals im Übungsraum von Juilliard hatte ich ihm versprochen, dass ich alle Noten aufschreiben würde, die ich in mir hatte. Dass ich etwas komponieren würde, komponieren und aufschreiben. Und da saß ich nun mit meinem Glas für Trinkgelder auf dem Notenständer, und spielte in einer Bar, die in eine andere Zeit gehörte, nicht schöpferisch, nur noch erschöpft. Und doch hatte Wilson Hart mich hier aufgespürt. Er war gekommen, um mir zuzuhören, als hätten wir gestern erst gemeinsam improvisiert. All diese Noten waren immer noch irgendwo in mir, unversehrt. Alles, was ich je verloren hatte, würde wiederkommen, jetzt wo er da war, dieser Mann, dem ich nie gedankt hatte für alles, was er mir gezeigt hatte. Die zweite Chance würde ich nicht verspielen.
Meine Hände, die von den Tasten aufgeflogen waren, landeten wieder auf dem abgebrochenen Akkord und öffneten ihn. Ich hatte »When a Man Loves a Woman« gespielt, hauptsächlich, weil ich Zeit gewinnen und mich eine Viertelstunde lang daran festhalten konnte – das ideale Gegenmittel zu der Nichtigkeit von Nancy Sinatra, die ein Betrunkener sich gewünscht hatte, der schon im nächsten Augenblick zur Tür hinaus war. Als meine Hände die Melodie wieder fanden, ergriffen sie von ihr Besitz, präsentierten sie meinem alten Freund auf einem silbernen Tablett. Ich war Bach in Potsdam, Parker in Birdland: Es gab nichts, was ich mit dieser einfachen Akkordfolge nicht machen konnte. Ich verwob sie mit jedem erdenklichen Kontrasubjekt aus Wilsons und meiner gemeinsamen Vergangenheit. Ich brachte Rodrigo ins Spiel, Wilsons geliebten William Grant Still, sogar Schnipsel aus Wilsons eigenen Kompositionen, an denen er in den Jahren unserer Bekanntschaft so systematisch gearbeitet hatte. Ich ließ Anspielungen einfließen, die keiner außer ihm erkennen konnte. Ein paar Takte lang wiederholte ich das Motiv ostinato, regelmäßig wie ein Herzschlag – »when a man loves a woman, down deep in his soul« –, und ich hätte jede beliebige Melodie damit verbinden und zu einem Ganzen verschmelzen können.
Auf der anderen Seite des Raumes lauschte Wilsons massige Gestalt wie gebannt meinem Spiel. Sein Lächeln verlor die Traurigkeit. Seine Arme umklammerten den Tisch, und einen Augenblick lang dachte ich, er werde ihn hochheben und im Takt zu meinem Spiel herumwirbeln lassen. Er verstand jede Botschaft, die ich in meine Musik einfließen ließ. Auf der Zielgerade legte ich noch einmal ordentlich zu und schloss mit einer bombastischen plagalen Kadenz, einem gewaltigen Amen, bei dem mein alter Freund vor lauter Freude den Kopf schüttelte. In der Dunkel-heit des Glimmer Room fragten seine Augen: Wo um alles in der Welt hast du das gelernt?
Ich sprang auf und lief zu ihm hinüber. Es war noch zu früh für meine Pause, aber meinetwegen konnte Mr. Silber mich durch einen
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