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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ist.
    Doch vor dieser Gedächtnislücke kommt erst noch »America«. Die Zeit beginnt zu schmelzen. Das Klavier setzt wieder ein, spielt die letzten einfachen Akkorde, eine Tonfolge, die allen, die in diesen Breiten geboren sind, in Fleisch und Blut übergegangen ist, eine vollkommene Kadenz, so selbstverständlich wie das Atmen. Alles was sie hört, als die kurze Einleitung wieder a tempo einsetzt, ist das Geräusch ihrer eigenen Lungen. Für einen kurzen Taktschlag, so weit wie der menschenüber-säte Horizont, vergisst sie den Text. Jahrelange Vertrautheit blockiert die Erinnerung. Wie wenn man den eigenen Namen vergisst. Oder die Zahlen von eins bis zehn. So bekannt, dass man sich nicht mehr erinnert.
    Wieder schwappt die Menge nach vorn, eine große Welle, die sie überspülen und ertränken will. Diesmal lässt sie es zu. Vielleicht bringt sie das Vergessen. Aber die Zeit richtet alles. Ein Lichtschein, ein Wegweiser in diesem schwellenden Ozean der Dunkelheit, eine Dunkelheit, entstanden aus dem Gefühl der Zusammengehörigkeit. Einen Augenblick lang, hier, jetzt, an den Seiten der spiegelnden Wasserfläche, in einem gewaltigen Bogen von der Säule des Washington Monument über den Sockel des Lincoln Memorials bis hinunter zu den Ufern des Potomac, nimmt ein Staat Gestalt an, ad hoc, spontan, revolutionär, frei – eine Idee, eine ideale Nation, die ein paar Takte lang, zumindest im Lied, all das ist, was sie zu sein behauptet. Das ist der Ort, den ihre Stimme erschafft. Der Ort aus dem Text, der ihr endlich wieder einfällt. Das süße, flüchtige thee. Of thee I sing. Dir gilt mein Lied.

MEIN   BRUDER   IN   ALT   HEIDELBERG
     
    Im Herbst 1952 begann Jonah seine Ausbildung an der Boylston Academy of Music. Bevor er aufbrach, schärfte er mir ein, dass ich nun für das Glück unserer Familie verantwortlich sei. Ich blieb in diesem Jahr zu Hause, der schwierigere von beiden Parts, übernahm stets den Abwasch, damit meine Mutter es leichter hatte, spielte mit Ruth, tat, als
    verstünde ich es, wenn mein Vater beim Abendessen mit hingekritzelten Zeichnungen Minkowski erklärte. Mehr Gesangschüler kamen ins Haus, und Mama sprach davon, dass sie selbst wieder Stunden nehmen wolle. Nach wie vor sangen wir gemeinsam, aber nicht mehr so oft wie früher. Wenn, dann waren es Sachen, die wir schon kannten. Es schien nicht richtig, dass wir etwas Neues einstudierten. Vor allem Mama wollte nicht, dass wir lernten, wenn Jonah nicht mitlernen konnte.
    Dreimal kam Jonah in seinem ersten Jahr nach Hamilton Heights zu Besuch, das erste Mal zu Weihnachten. Unsere Eltern sahen anscheinend keine großen Veränderungen an ihm; es war, als sei er nie fort gewesen. Mama hätte ihn am liebsten mit Haut und Haaren verschlungen, schon als er die Treppe heraufkam. In der Tür nahm sie ihn in die Arme und ließ ihn gar nicht wieder los, und Jonah ließ sie gewähren. »Du musst uns alles erzählen«, sagte sie, als sie ihn schließlich freigab. »Wie geht es in der Schule?« Selbst ich, hinter ihr im Flur, spürte den wachsamen Ton, die Anspannung.
    Aber Jonah wusste, was sie brauchte. »Och, das ist schon in Ordnung. Man lernt eine Menge. Aber nicht so viel wie hier bei uns.«
    Mama atmete tief durch und scheuchte ihn in das nach Ingwerkeksen duftende Wohnzimmer. »Gib den Leuten Zeit, Kind. Es wird schon noch besser.« Sie und mein Vater warfen sich ihren Entwarnungs-Blick zu, aber Jonah und ich sahen es beide.
    Die wenigen Tage, die er bei uns war, waren die glücklichsten des Jahres. Mama machte ihm Bratkartoffeln mit Speck, und Ruth überhäufte ihn mit Bildern, die in den Wochen seiner Abwesenheit entstanden waren, alles Porträts nach dem Gedächtnis. Er war ein Held, der aus der Schlacht heimkehrte. Das gesamte Repertoire musste aufgefrischt werden. Beim Singen mussten wir anderen uns zwingen, dass wir nicht horchten, ob seine Stimme sich verändert hatte.
    Über Weihnachten nahmen wir uns den ersten Teil des Messias vor. In den Osterferien kam der Zweite an die Reihe. Ich sah, wie Jonah Pa musterte, als er den Text studierte. Selbst Pa bemerkte die verstohlenen Blicke. »Meinst du, ich könnte nichts Christliches singen? Wenn die Musik es will, bin ich Christ. Weißt du eigentlich, dass Leute, die stottern, es niemals beim Singen tun? Haben sie dir das beigebracht in deiner Schule?«
    Jonah drängte, ich solle mit ihm nach Boylston kommen. Das sei meine Entscheidung, sagte Mama. Ich solle nichts tun, was ich nicht

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