Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Hitparadenvirtuosen seiner Wahl ersetzen. Wilson schüttelte den Kopf immer heftiger, als ich näher kam, und mit jedem Schritt spürte ich, wie sehr mir seine tiefe Menschenliebe gefehlt hatte. Er war der einzige Mensch, in dessen Gegenwart ich mich je vollkommen zu Hause gefühlt hatte. Sein Lächeln bekam einen fragenden, überraschten Ausdruck, aber es löste sich erst auf, als er sah, wie mein eigenes Risse bekam und zu Bruch ging. Im Licht der Kerze auf seinem Tisch verschwand Wilson Hart und verwandelte sich in einen Fremden aus Lahore oder Bombay – einem Land, das ich noch nie gesehen hatte. Ich blieb drei Meter vor ihm stehen, meine Vergangenheit zerbrach vor meinen Augen. »Es – es tut mir Leid. Ich dachte, Sie sind ein anderer.«
    »Aber ich bin ein anderer«, protestierte der Mann mit einem undefinierbaren Akzent. »Und Sie spielen wie kein anderer.«
    »Verzeihung.« Ich flüchtete in die Sicherheit meines Klaviers. Natürlich war es nicht Wilson Hart. Wilson Hart hätte nie einen Club wie diesen betreten, nicht einmal aus Versehen. Man hätte ihn aufgehalten, bevor er die Tür erreichte. Ich ließ mich auf den Klavierhocker fallen und spielte »Something«, beschämt und ohne jedes Gefühl. Als ich am Ende des Titels wieder den Mut hatte aufzublicken, war der Fremde fort.
    Vielleicht lag es daran, dass sie nie zuvor ein so reich bestücktes Zitateraten gehört hatten, vielleicht auch daran, dass sie glaubten, ich hätte etwas Neues erfunden – jedenfalls begann eine kleine Schar unter den Gästen tatsächlich zuzuhören. Sie saßen an den Tischen direkt um das Klavier und beugten sich vor, wenn ich spielte. Anfangs dachte ich, es sei etwas nicht in Ordnung. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass meine Töne ungehört in den Tiefen des Weltalls verhallten. Aber jetzt hatte sich etwas verändert. Ich hatte ein Publikum, und ich war nicht einmal sicher, ob mir das gefiel. Das ganze aufmerksame Zuhören erinnerte mich viel zu sehr an die Welt, aus der ich gekommen war. Ich fand es beun-ruhigend.
    Am Ende des Sommers nahm Mr. Silber mich eines Nachts vor dem Nachhausegehen beiseite. Die Saison war fast vorüber, und ich wusste noch nicht, wie ich über den Winter kommen sollte. Ich fühlte mich nicht in der Lage, aus Atlantic City wegzugehen. Für die Arbeitssuche fehlte mir die Kraft. Eine Rückkehr zu der Musik, die ich verraten hatte, war unmöglich. Ich litt an einer Erschöpfung, die mit einem Vielfachen meines eigenen Gewichts auf mir drückte. Zum ersten Mal überhaupt sehnte ich mich danach, einfach nicht mehr zu existieren. Mr. Silber legte mir die Hand auf die Schulter und sah mich an. »Junge«, sagte er, vielleicht auch »mein Junge«. Er nannte mich beides. »Du hast etwas.« Er suchte nach einem beifälligen Ton, bei dem er sich nicht zu viel vergab. »Ich weiß, wir haben dich nur für die Hochsaison engagiert, aber wenn du nichts anderes vorhast, hätten wir auch weiter Verwendung für dich.«
    Ich hatte nichts anderes vor. Weder in diesem Jahr noch irgendwann in der Zukunft. Ich wollte nur, dass jemand Verwendung für mich hatte.
    »Mit dir am Klavier können wir das ganze Jahr über Leute anlocken.«
    »Mir gehen die Ideen aus«, wandte ich ein. »Ich habe den Anschluss verpasst.«
    »Das Zeug, das du gespielt hast? Du weißt schon, das verrückte Zeugs? Deine Musik eben? Mach einfach weiter so. Wann immer dir danach zumute ist! Spiel einfach drauflos; und wenn du es einmal hast, bleib dabei und verändere nichts. Die Gage muss ich dir allerdings auf hundert Dollar kürzen. Nachsaison, verstehst du.« Vorsorglich, damit ich nicht auf die Idee kam abtrünnig zu werden und ein paar Straßen weiter im Shimmer Room zu spielen, versprach er mir, dass das Ginger Ale von jetzt an und für immer kostenlos sei.
    Der Sommer ging zu Ende, und die Touristen verschwanden. Die Stadt wurde härter, verschlossener. Aber Mr. Silber behielt Recht mit seiner Prophezeiung: Der Glimmer Room hatte auch weiterhin genug Gäste, dass die Livemusik sich bezahlt machte. Ich erkannte die Gesichter von Wiederholungstätern, von echten Einheimischen aus Atlantic City: Eine deprimierende Vorstellung, über die ich lieber gar nicht nachdenken wollte, obwohl ich jetzt selbst einer von ihnen war. Manchmal kamen die Stammgäste in der Pause zu mir herüber. Sie redeten langsam und deut-lich, als sei ich ihrer Sprache nicht ganz mächtig. Als sei ich jemand, der schon diverse Drogentherapien hinter sich hatte. Ich bemühte

Weitere Kostenlose Bücher