Der Klang der Zeit
Ferne – gab ich ihr zu verstehen, dass ich für sie spielte. Mein Spiel war wie ein laufender musikalischer Kommentar zu ihrem Abend. Ich spielte »Respect«, wenn irgendwelche Männer versuchten, sich an sie heranzumachen, »Shop around«, wenn ich bemerkte, wie sie selbst ihre Blicke schweifen ließ und das Männerangebot musterte, »I Second That Emotion«, wenn sie in den frühen Morgenstunden verstohlen gähnte und mir damit aus der Seele sprach. Sie liebte meine heimlichen Ausflüge in die dreißiger und vierziger Jahre – zu Lena Horne, Billie Holiday, der musikalischen Schmuggelware, von der Mr. Silber nichts hören wollte. Kühl wie eine Statue aus Eis saß sie da und sang leise mit, wenn ich Lieder spielte, die so alt waren wie ich. Sie selbst konnte keine Minute früher als 1950 zur Welt gekommen sein. Doch je weiter meine Reise in die Vergangenheit führte, desto mehr taute sie auf.
Durch Zufall stieß ich schließlich auf ihre Erkennungsmelodie. Ich spielte schon ungefähr drei Monate für sie, insgesamt an vielleicht zwanzig Abenden. Wir hatten noch kein einziges Wort gewechselt, hatten uns nur ein- oder zweimal flüchtig zugelächelt und das Lächeln sofort wieder unter Verschluss genommen. Trotzdem wusste ich, wenn auch nur, weil sie mir selbst nicht aus dem Sinn ging, dass sie schon seit Wochen an mich dachte. Wir hatten eine gemeinsame Bestimmung und umkreisten sie vorsichtig, unsicher, wie wir uns ihr nähern sollten.
Ich mühte mich zu zeigen, was meine Rechte konnte, wandelte auf den Spuren von Fats Waller, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Mr. Silbers Abneigung gegen die älteren Titel ließ ein wenig nach, jetzt im Winter, wo die Gäste ebenfalls nostalgische Gefühle entwickelten. So konnte ich jeden Abend ungestraft einige alte Titel spielen. Mir fehlte nur Jonah, um die wundervollen Texte des madagassischen Prinzen Andy Razaf zu neuem Leben zu erwecken und mein kleines Kaminfeuer in lodernde Flammen zu verwandeln. Ich sang sie mit verhaltener Stimme selbst, oder beobachtete, wie die Lippen meiner weißen Königin mit dem ebenholzschwarzen Haar die Worte formten. »Oh what did I do to be so black and blue?« Einen nach dem anderen dieser wunderbaren Songs nahm ich mir vor, und so kam ich schließlich zu »Honeysuckle Rose«. Mein Arrangement war so üppig mit Nektar versüßt, so reich an Stempeln und Staubgefäßen, dass Mr. Silber die Melodie nicht erkannt hätte, selbst wenn er versehentlich zugehört hätte. Aber die Wirkung auf mein privates Ein-Personen-Publikum war frappierend. Woher ihre Vor-liebe für ausgerechnet dieses Lied rührte, konnte ich mir nicht vorstellen. Schon bei den ersten Akkorden verwandelte sie sich in die sinnlichste aller schweigenden Sirenen. Die Melodie ergriff ganz und gar Besitz von ihr. Es war der letzte Song vor der Pause; sie lächelte mir direkt ins Gesicht, einen kecken Zug um die Wangen, und ihre Lippen verkün-deten: Don't need sugar, you just have to touch my cup, wer braucht Zucker, du bist honigsüß genug.
Willst du?, fragten meine Augenbrauen. Sie lächelte, halb schüchtern, halb starr vor Angst. Ja.
Mit einer Kopfbewegung bedeutete ich ihr, sie solle aufstehen und singen. Ich spielte mit der Rechten ein Riff und gab ihr mit dem gekrümmten Zeigefinger der Linken das Zeichen zum Näherkommen. Sie zeigte auf sich, und ich nickte ernst. In einer seltsamen Reflexbewegung wies sie mit dem Finger auf den Boden: Jetzt? Wieder nickte ich, noch ernsthafter als zuvor. Wann sonst? Ich improvisierte, trat zwei Takte lang auf der Stelle, bis sie all ihren Mut zusammengenommen hatte und aufgestanden war. Ich bin nicht sicher, wovor sie Angst hatte. Sie trug ein langes, schmales weinrotes Kleid, das sich gierig an ihren Körper schmiegte, und bewegte sich wie ein Fohlen bei den ersten Gehversuchen. Sie trat neben die geschwungene Flanke des Flügels und begann zu singen, ein süßer, klarer, kräftiger Alt. »Every honeybee fills with jealousy.« Zuckersüß. Meine Honeysuckle Rose.
Ein oder zwei Gäste applaudierten, überrascht von der unverhofften Gesangdarbietung. Sie machte eine hastige Verbeugung und suchte mit den Augen nach einem Fluchtweg. Bevor sie mir entkommen konnte, stand ich auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Joseph Strom.«
»Oh! Ich weiß!«
»Tja. Ich nicht.«
»Wie bitte?« Die Stimme versetzte mir einen Stich: Ein durchdringender, näselnder, typischer New-Jersey-Tonfall, der beim Singen ganz verschwand.
»Ich
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