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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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mich nach Kräften, ihren Vorstellungen zu entsprechen, redete mit leiser Stimme und ließ den einen oder anderen gemurmelten Brocken Straßenslang aus Brooklyn in meine Antworten einfließen. Es geht doch nichts über eine undeutliche Aussprache – man wirkt sofort authentisch damit.
    Eine Frau kam jetzt jedes Wochenende. Sie war mir gleich beim ersten Mal aufgefallen. Ihr Begleiter hatte eine große Schmalztolle und war gut zehn Zentimeter kleiner als sie. Nach den ersten paar Monaten im Glimmer Room hatte ich aufgehört, auf die vielen gut aussehenden Frauen zu achten, aber diese eine erregte meine Aufmerksamkeit. Sie war der Typ empfindliche Treibhausblüte, für den Jonah immer eine besondere Vorliebe hatte. Ich wäre am liebsten losgestürmt und hätte ihn gesucht, hätte ihm von meiner Entdeckung berichtet und ihn damit zurück nach Amerika gelockt. Ihr schmales, makelloses Gesicht hatte die Farbe von Zuckerwatte, mit hohen Wangenknochen und einer Bilderbuchnase. Das beunruhigend glatte, glänzend schwarze Haar trug sie in einer kecken Pagenfrisur. Sie kleidete sich bewusst gegen die Mode und hatte eine Vorliebe für weiße Blusen und lodengrüne Röcke zu dunklen Strümpfen und Schnürstiefeletten.
    Sie blickte in die Welt wie aus einem Bilderrahmen. Vielleicht war sie als Teilnehmerin an einem der zahllosen Schönheitswettbewerbe nach Atlantic City gekommen und dann einfach hängen geblieben. Vielleicht war sie die Tochter eines alteingesessenen Muschelfischers oder der Spross einer vom Glücksspiel ruinierten Familie. Ich entwickelte jedes Mal eine andere Theorie. Ich spürte, wie es mich glücklich machte, wenn sie kam. Mehr nicht. Einfach nur das schöne Gefühl, dass ich spielte, was ich gern spielte, dass jetzt der gute Teil des Abends beginnen konnte. Und ich war froh, als der Mann mit der Rockertolle nicht mehr mitkam. Die Art, wie er ihr die Hand ins Kreuz legte und sie durch den Raum steuerte, hatte mir nicht gefallen. Vielleicht war das auch eine Art von Rassismus, aber ich wollte nicht, dass jemand, der aussah wie er, meine Musik mochte.
    Sie setzte sich immer an einen winzigen Zweiertisch fast schon in der Rundung des Flügels. Die Kellnerinnen hielten ihn für sie frei. Da saß sie dann stundenlang und nippte an ihrem Amaretto-Cocktail. Von Zeit zu Zeit kamen Männer und wollten mit ihr flirten; sie setzten sich ihr gegenüber, mit dem Rücken zu mir. Doch nach einer Viertelstunde war sie sie jedes Mal wieder los. Sie wollte keine Gesellschaft. Nur die Musik. Es war mir schon seit Wochen aufgefallen. Selbst wenn sie ins Leere starrte und das glatte schwarze Haar ihr Profil verdeckte, sah ich es. Sie sang leise mit. Bei fast jedem Song, den ich spielte. So gut ich die Melodie auch versteckte, sie fand sie und brachte sie zum Vorschein. Sie kannte sogar die zweiten Strophen.
    Ich stellte sie auf die Probe, entführte sie unbemerkt auf musikalische Entdeckungsreisen. Ihr Repertoire war riesig, weit größer als das meine. Ich lernte die Melodien oft erst am späten Nachmittag, kurz bevor ich zur Arbeit kam. Aber für die Frau mit dem samtschwarzen Haar waren sie alte Bekannte. Wenn ich zu einem verjazzten Schubert oder Schumann überleitete und diese fremden Klänge für einen Abend unbemerkt in die verrauchte Bar schmuggelte, richtete sie sich auf, lauschte auf-merksam, den Kopf zur Seite geneigt, und staunte, dass eine so schöne Melodie existieren konnte, ohne dass sie ihr jemals begegnet war. Ich behielt sie im Auge, denn ich wollte herausfinden, welche Stücke ihr besonders gefielen, welche ein Leuchten auf das schneeweiße Gesicht zauberten. Bei »Incense and Peppermints« hatte ihr geflüsterter Gesang etwas geradezu Feierliches. Aber bei »The Shoop Shoop Song« konnte sie kaum still sitzen bleiben. Bei »Monday Monday« wirkte sie niedergedrückt, aber bei »Another Saturday Night« geriet ihr ganzer Körper in Bewegung. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Schlüssel fand. Doch als ich das Muster einmal durchschaut hatte, funktionierte es fast immer. Ihr musikalischer Geschmack folgte dem einfachsten Gesetz auf der Welt: Sie liebte die Musik der Schwarzen und Farbigen, den »Shim-Sham-Shimmy with the black and tan«.
    Als ich erst einmal wusste, was sie mochte, spielte ich es. Ohne dass wir je einen Blick wechselten – mit einer Fähigkeit, die mir fast das Herz stillstehen ließ, starrte sie immer genau dann, wenn ich zu ihr hinübersah auf einen unbestimmten Punkt irgendwo in weiter

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