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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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unaussprechliches Geheimnis?«
    »Ich dachte ... ich wollte kein großes ...« Sie senkte beschämt den Kopf. Für uns alle drei, nehme ich an. »Das war mein Vater.«
    Ich fuhr zurück. »Dein Vater war da und wollte dich hören?«
    »Uns«, würgte sie hervor. »Uns hören.« Und er war angewidert gegan-gen, bevor sie ihn mit seinem Lieblingslied zurückerobern konnte. Ich ließ die Szene vor meinem inneren Auge ablaufen. Sonntag für Sonntag hatte ihr Vater sie Musik hören lassen, in die sie sich verliebt hatte, und jetzt hasste er sie dafür. Ihr Liebhaber, von dem sie geglaubt hatte, er sei in dieser Musik zu Hause. Meine eigene Sonntagsmusik, die die unsicht-bare Spucke dieses Mannes nur noch schwerer gemacht hätte. Spucke, die für mich bestimmt war, aber seine Tochter traf.
    Ich stützte mich an der Backsteinwand des Glimmer Room, neben ihr. »Bist du – hast du seitdem mit ihm gesprochen?«
    Sie schüttelte nicht einmal den Kopf. »Mam holt ihn nicht an den Apparat, wenn ich anrufe. Sie spricht selbst kaum ein Wort mit mir. Ich bin zu ihrem Haus gefahren, und sie – er kam an die Tür und hat die Kette vorgelegt.«
    Sie schluchzte nur noch. Ich nahm sie mit in den menschenleeren Club, denn dort konnte ich den Arm um sie legen, ohne dass die Polizei kam. Als Mr. Silber seine Nachtigall weinen hörte, polterte er in die Küche und machte ihr eine Tasse dünnen Tee.
    »Das darfst du nicht zulassen.« Ich strich ihr über das Haar, wenn auch halbherzig. »Familie ist wichtiger als ... das hier. Du musst es wieder in Ordnung bringen. Nichts ist so einen Streit wert.«
    Sie sah mich an mit ihren rot verquollenen Augen. Entsetzen breitete sich darin aus wie verschütteter Wein. Sie klammerte sich an meinen Arm, drückte ihr Gesicht fest an meine Brust. Ich kam mir vor wie jemand, der gerade ein Kind überfahren hat und für den Rest seiner Tage mit der Erinnerung daran leben muss.
     
    Teresa nutzte es nie aus, aber sie hatte jetzt niemanden mehr außer mir. Nur noch mich und die Karamellfabrik. Wenn ich jetzt in ihre Wohnung kam, war es eine gute Tat. Uns fiel nichts mehr ein, was wir zueinander sagen konnten, aber Teresa merkte es nie. Sie konnte schweigen und lächeln, wenn ich schon längst nicht mehr wusste, was ich sagen sollte.
    Der Gedanke an ihren Vater wurde mir zur Obsession. Ich versteckte Fragen nach ihm in unserem Tischgespräch. Das ärgerte sie, aber ich musste einfach mehr wissen. Wo arbeitete er? Er war Elektroinstallateur in der Stadt. Wo war er aufgewachsen ? Saddle Brook und Newark. Poli-tische Überzeugung? Lebenslang Demokrat, genau wie meine Eltern. Zu dem, was ich wissen wollte, kam ich nie; immer verstummte sie vorher.
    Uns fiel nichts mehr ein, was wir zusammen tun konnten, nicht einmal für die paar Stunden, die wir gemeinsam frei hatten. Ich schlug Gesangunterricht vor. Ich könne ihr ein paar Tricks beibringen. Sie war begeistert. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Sie wollte alles wissen, was ich über Ansatz, Atemstütze, das Öffnen der Stimme wusste – all die Schnipsel, die ich im Laufe der Jahre von Jonah aufgeschnappt hatte. »Richtiger Gesang. Wie in der Oper.« Sie lauschte diesen Geheim-nissen mit der gleichen Begeisterung wie ihre Kolleginnen in der Fabrik den Geschichten von Prinz Charles und Fürst Rainier.
    Ich brachte ihr bei, was ich wusste. Aber je mehr sie lernte, desto schlechter wurde sie. Als ich sie kennen lernte, war sie eine gute Sängerin gewesen. Besser noch: Alles, was sie sang, war schön. Jede Melodie bekam etwas Verletzliches bei ihr. Für jedes Lied traf sie genau den richtigen Ton. Sie war bezaubernd, und das ohne jede Kunst – frisch, klar, unwillkürlich sexy, ganz Rhythmus, der von ihr Besitz ergriff und sie erst wieder losließ, wenn das Lied zu Ende war. Aber jetzt, ausgestattet mit dem neuen Wissen, bekam sie einen theatralischen, glatten, runden Ton, der unecht wirkte. Ich hatte ihr schon den Vater genommen. Jetzt nahm ich ihr auch noch die Stimme. Auch die Freunde, die sie gehabt haben mochte, bevor sie sich mit mir einließ, gab es nicht mehr. Wir waren immer nur zu zweit. Teresa konnte nachts nicht mehr schlafen und aß nur das Allernotwendigste. Ich brachte diese Frau um. Dabei hatte ich sie doch nie um etwas gebeten.
    »Ich hätte gern mehr Zeit zum Singen«, sagte sie. »Meinst du, ich sollte ein paar Stunden weniger arbeiten?«
    Ganz und gar meine Schuld. Ich hätte es wissen sollen, ich hätte Abstand halten sollen. Zwei

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