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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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jetzt in Fahrt kamen, etwa auf Höhe der zweiten Strophe, ging noch ein letztes Mal ein Leuchten darüber. Für meinen Vater war die Freude an der Musik stets die Freude an einem planvollen Kosmos gewesen – harmonisch, systematisch, komplex: Planeten eines Sonnensystems, die ihre Bahnen in- und umeinander zogen, jede davon nachgezeichnet durch die Stimme eines Menschen aus seiner Familie. Aber das Vergnügen, das ihn und seine Frau zusammengehalten hatte, war die Freude des Schatzsuchens gewesen. Beide hätten bis zu ihrem letzten Atemzug geschworen, dass es keine zwei Melodien gab, die nicht zusammenfinden konnten, wenn man nur Tempo und Tonart gut genug anpasste. Als Teresa und ich uns nun von dem Song treiben ließen, den Ellington aufgeschrieben hatte, ging mir auf, dass das mindestens so nahe am Jazz war wie an den tausend Jahren Notenblättern, die ihrem Spiel als Grundlage dienten.
    Während mein bleiches Bonbonmädchen auf diesem Lied dahinglitt, süßer und schwereloser, als ich sie je gehört hatte, tauchte ich in einen unterirdischen Fluss und kam mit alten Scherben wieder hervor, Bruch-stücken von Machaut bis Bernstein, und baute sie in meine Begleitung ein. Teresa muss gehört haben, wie die Laute, die sie trugen, plötzlich fremd wurden, aber sie segelte unbeirrt weiter. Wer kann sagen, wie viele Zitate Pa erriet? Die Musik war da, sie fügte sich ein. Das war alles, was zählte. Und für die siebeneinhalb Minuten, die mein Mädchen und ich diesen Song auf Kurs halten konnten, war auch meine Familie noch einmal da, im Klang unserer Töne vereint.
    Baby, shall we go out skippin'? Einmal im Leben muss man frei sein, einmal, bevor man stirbt. Bekenne dich zu deiner Leidenschaft, sagte das Lied. Selbst eine aufgeschriebene Melodie musste beim Singen jedes Mal neu erfunden werden. Dieses kleine Boot war schon auf jede nur erdenkliche Weise auf den Wellen getanzt, schon eine Million Mal und mehr, bevor diese Frau und ich es zum ersten Mal gehört hatten. Aber was Teresa für meinen Vater sang, das war neu, das war etwas, das noch keiner kannte. Diese Begegnung zwischen uns und den Tönen gab es nur dies eine Mal, hier und jetzt. Diese Noten wussten, wer meine Leute waren, all die Leben zwischen dem Ausdenken und dem Aufschreiben. Diese Musik ist die Sprache von uns allen. Sing, wo du bist, so gut es geht. Sing all die Dinge, die das Leben dir versagt hat. Keinem gehört eine Note, nicht eine einzige. Nichts überflügelt die Zeit. Sing zu deinem eigenen Trost, sagte das Lied, denn keiner wird je für dich singen. Speaks Latin, that satin doll.
    In einer perfekten Welt hätte Pa Musik gemacht, statt sie nur zu hören. Aber am Ende seines Lebens war mein Vater auch ein guter Zuhörer. Er rührte sich kaum, nur in seinem Inneren. Sein Gesicht wurde offener. Als wir zur letzten Strophe ansetzten, schien er bereit, zu all den wirbelnden Lichtpunkten in seinem Inventar der Galaxien zurückzukehren. Wir kamen ans Ende des Lieds, und Teresa und ich grinsten uns an. Wir hatten unsere Körper verlassen und waren ganz in dem Lied aufge-gangen. Pa wiegte sich noch ein wenig weiter im Takt, nach einem Rhythmus, den wir Lebenden nicht zu hören bekommen. »Eure Mutter liebte dieses Lied.«
    Das schien mir unmöglich. So weit konnte ich nicht zurück. Ich war mir nicht einmal sicher, ob mein Vater die Melodie erkannt hatte.
    Pas Zustand verschlechterte sich zusehends, und noch immer hatte ich keine Nachricht von Jonah. Täglich hatte ich hundert mögliche Erklä-rungen dafür, jede unfreundlicher als die vorhergehende. Als das Jahr zu Ende ging, fragte Pa, wo Jonah sei. »Ich glaube, er singt Mahler in Köln.« Je näher der Tod kam, desto beherzter log ich. Ich ließ es klingen, als fände das Konzert gerade in dieser Woche statt. Schließlich hatte mein Vater uns einmal erklärt, dass es jetzt kein Jetzt mehr gab.
    »In Köln, sagst du? Aber natürlich.«
    »Wieso ›natürlich‹, Pa?«
    Er sah mich verblüfft an. »Na, von da kommt doch seine Familie.«
    »Wirklich?«, fragte Teresa. »Ihr habt Verwandte in Deutschland? Die könnten wir doch besuchen!«
    Ich legte den Arm um sie, nahm ihr so sanft es ging ihre Illusionen. Ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass sie gern verreist wäre. Es war nie die Rede davon gewesen.
    Pa war auf seiner eigenen Reise in die Vergangenheit, mit doppelter Lichtgeschwindigkeit. »Die Familie meines Vaters. Seit Jahrhunderten im Rheinland. Meine Mutter kam aus einer

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