Der Klang der Zeit
Immigrantenfamilie, das weißt du.«
Ich wusste nichts. Es gab so vieles was ich nicht wusste.
»Sie kamen aus dem Osten. Ich könnte nicht einmal sagen, wie die Gegend heutzutage heißt. In der Ukraine. Es ging ihnen nicht gut dort. Und so –« Er krächzte ein kleines Lachen, und es klang munter wie eh und je. »Und so kamen sie nach Deutschland.«
Seine drei Kinder waren die letzten dieser Linie. Auch das eine Wahl, die er getroffen hatte: Er ließ die Vergangenheit einmünden in einen neuen Pfad, und damit bewahrte er sie. Erst jetzt wurde mir das Maß dessen, was ich verloren hatte, klar. »Das hättest du uns erzählen sollen, Pa. Wenigstens etwas von unserer Verwandtschaft.«
Ein Flackern kam in seine Augen bei dem Gedanken, dass all seine Gleichungen falsch gewesen waren. Sein Blick wurde trübe von seinem eigenen kolossalen Betrug. Aber dann, dem Tod so nahe, kam er wieder zu sich selbst. Er tätschelte mir den Arm. »Ich mache euch bekannt. Du wirst sie mögen.«
Kein Arzt hatte mich auf das Tempo vorbereitet, mit dem er verfiel. Einmal, vor Jahrhunderten, hatte Pa mich gefragt: »Wie schnell ist die Zeit?« Jetzt weiß ich es: niemals eine Sekunde pro Sekunde. Die Uhr meines Vaters schnarrte in rasendem Tempo ab. Ein paar Tage zuvor war er noch durchs Haus geschlurft, jetzt lag er auf seinem letzten Eisen-bett im Mount-Sinai-Hospital. Hastig schrieb ich noch eine weitere Notiz nach Amsterdam: »Wenn du kommen willst, dann beeil dich.« Teresa schickte ich zurück nach Atlantic City, auch wenn sie noch so sehr protestierte. Sie musste ihre Arbeit behalten; schließlich hatte sie wegen mir schon alles andere verloren. Es gab Dinge, die ich noch von Pa erfah-ren musste, Dinge, die nur im Kreis der kleinsten Rasse ausgetauscht werden konnten: ein Vater, ein Sohn.
Eines Nachmittags, als das Morphium aus seiner Tropfflasche ihn noch im Mittelgrund zwischen dem Komponierten und dem Improvisierten hielt, zwischen Ausflucht und Verschwinden, fragte ich ihn. Er musste inzwischen begriffen haben, dass ich das Einzige seiner drei Kinder war, das ihm auf dieser letzten Station seines Lebens zur Seite stand.
»Pa?« Ich saß auf einem Plastikstuhl an seinem Bett, und wir starrten beide auf die grün getünchte Wand aus Hohlblocksteinen. »Wie war das damals ... an dem Abend, an dem du und Großvater ...«
Er nickte – nicht um mich zu unterbrechen, sondern damit ich es nicht laut sagen musste. Sein Gesicht war verzerrt, von einem schlimmeren Schmerz. Ein ganzes Leben lang hatte er sich geweigert, darüber zu sprechen, und jetzt öffnete und schloss sein Mund sich wie bei einer Forelle, die am Boden des Bootes liegt und in diesem fremden Meer aus Luft ertrinkt. Er rang so schwer um die erste Silbe, beinahe hätte ich gesagt, er solle es doch sein lassen, solle sich ausruhen. Aber jetzt wollten wir beide, dass es herauskam. Das war wichtiger als der Wunsch, noch ein letztes Mal zu zeigen, wie nahe wir uns waren. Mein Vater war verantwortlich dafür, dass ich die Familie meiner Mutter verloren hatte, und er hatte mir nie erklärt, warum es so gekommen war. Aber was immer es mir helfen konnte, es konnte nicht so wichtig sein, dass es diese Qual auf seinem Sterbebett gerechtfertigt hätte. Ich saß da, ein unerbittlicher Richter, und wartete, dass er sich mit seiner Aussage ans Messer lieferte.
»Ich ... ich habe deinen Großvater geliebt. Er war ein so prächtiger Mann. Ein starker Mann. Wie sagt man? Großzügig. Vornehm. Alles wollte sein Verstand in sich aufnehmen. Er wäre ein wunderbarer Physiker geworden.« Einen Herzschlag lang sah das geschundene Gesicht meines Vaters glücklich aus. »Und ich glaube, er mochte mich auch. Ich war mehr als nur ein Schwiegersohn für ihn. Wir haben oft diskutiert, über alle erdenklichen Dinge, in New York, in Philadelphia. Er war so leidenschaftlich, immer hat er gekämpft für das Recht eurer Mutter, das Recht auf Glück, überall auf der Welt. Als wir ihm erzählten, dass dein Bruder unterwegs war, stöhnte er. ›Ihr macht mich zum Großvater vor der Zeit!‹ An den Feiertagen fuhren wir mit euch Jungs nach Philadelphia. Alles war so freundlich. Gewiss, es gab Schwierigkeiten mit – wie sagt man – dem Austausch.«
»Der Verständigung.«
»Ja. Natürlich. Ich vergesse mein Englisch. Der Verständigung. Aber er kannte mich. Er verstand mich.«
»Und du, hast du ihn verstanden?«
»Was er nicht über mich wusste, das wusste ich selbst auch nicht! Vielleicht hatte
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