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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Morrison und den Doors in mindestens drei verschiedenen Tonarten spielen konnte, manchmal alle drei gleichzeitig. Jeder bekam, was er wollte. Ich war ein freier Mann. Ich überlegte, ob ich Teresa bitten sollte, mir einen Posten in der Bonbon-fabrik zu besorgen.
    Nach drei Wochen meldete Dr. Erichson sich. »Es gibt einige interessante Notizen. Mit Ihrem Einverständnis gebe ich sie an Kollegen weiter, die auf diesem Felde forschen. Was die anderen neunzig Prozent an-  geht ...« Er mühte sich um die rechte Formulierung. »Hat Ihr Vater je mit Ihnen über die Vorstellung einer bevorzugten Rotationsrichtung des Universums gesprochen?«
    »Oft.«
    »Die Idee stammt von Kurt Gödel in Princeton.« Ein Flüchtling wie er selbst, ein Leidensgenosse, von dem mein Vater gesagt hatte, er sei der bedeutendste Logiker seit Aristoteles. »Die Theorie ist schon ein Viertel-jahrhundert alt. Gödel hat Gleichungen gefunden, die mit Einsteins Allgemeiner Feldtheorie im Einklang sind. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Danach verläuft die Zeit nicht geradlinig, sondern ist möglicherweise gekrümmt.«
    Eine Kindheitserinnerung tauchte plötzlich auf. Längst vergessene Tischgespräche aus einem früheren Leben. »Geschlossene zeitartige Kurven.«
    Dr. Erichson klang überrascht, fast schon verlegen. »Er hat Ihnen davon erzählt?«
    »Das ist Jahre her.«
    »Nun ja, am Ende ist er darauf zurückgekommen. Aus mathematischer Sicht ist nichts dagegen einzuwenden. Ungewöhnlich, aber einfach. Wenn man die Prämissen akzeptiert, gelangt man geradewegs zu dieser Lösung. Zu der Krümmung. In den Randbereichen der Gravitation lässt die Allgemeine Relativitätstheorie zumindest die mathematische Mög-lichkeit einer Verletzung der Kausalität zu.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ihr Vater hat sich mit Zeitschleifen beschäftigt. Auf einer solchen Schleife können Dinge sich stetig auf ihre lokale Zukunft zubewegen und dabei trotzdem in ihrer eigenen Vergangenheit landen.«
    »Eine Zeitreise.«
    Dr. Erichson lachte. »Jede Reise ist eine Zeitreise. Aber Sie haben Recht. Das war offenbar das, wonach er gesucht hat.«
    »Ist die Vorstellung real? Oder bloß ein Zahlenspiel?«
    »Ihr Vater hielt alle Gleichungen, die in der Physik zulässig sind, in gewissem Sinne für real.«
    Alles, was möglich ist, muss existieren. Das hatte er immer gesagt, sein ganzes Leben lang. Das war sein Glaubensbekenntnis, seine Freiheit. Es war das, was ihn neben der Musik am meisten bewegte. Vielleicht war es Musik für ihn. Was immer die Zahlen erlaubten, musste geschehen, irgendwann. Ich wusste nicht, wie ich fragen sollte. »Diese Schleifen sind real? Die Physik lässt sie tatsächlich zu?«
    »Wenn eine physikalische Theorie die Verletzung der Kausalität zu-lässt, ist sie falsch. Ich kenne keinen Wissenschaftler, der das nicht sagen würde. Das ist das eherne Gesetz, auf dem alle anderen aufbauen. Im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie würden diese Gleichungen tatsächlich zutreffen, vorausgesetzt die Galaxien im Universum haben eine bevorzugte Rotationsrichtung. Wenn das wahr ist, muss die allgemeine Relativitätstheorie ausgebessert werden.«
    Die Sternenkarten. Die endlosen Tabellen. »Was hat er herausgefunden? Was waren seine ... Schlussfolgerungen?«
    »Tja, ich habe nicht die Zeit, mich wirklich damit zu beschäftigen. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen hatte er noch keine bevorzugte Rota-tionsrichtung entdeckt.«
    Eine andere Richtung, wo immer man hinsah. »Und wenn er sie entdeckt hätte?«
    »Tja, die Gleichungen existieren. Dann würde die Zeit eine Schleife bilden. Wir könnten unser Leben immer wieder leben. Immer wieder von vorn.«
    »Wenn er keine bevorzugte Rotationsrichtung gefunden hat, heißt das, dass es keine gibt?«
    »Das kann ich nicht beantworten. Ich habe nicht so viel Zeit für diese Fragen wie Ihr Vater. Verzeihen Sie.«
    »Aber wenn Sie eine Wette abschließen würden?«
    Er überlegte lange, wälzte ein Problem, das wir nicht erfassen konnten, egal wie lange wir darüber nachgrübelten. »Selbst bei einer geschlos-senen zeitartigen Kurve ...« Er war einer von Pas Leuten, einer von denen, die alles genau verstehen mussten. »Selbst dann könnte man nur in eine Vergangenheit reisen, wenn man schon einmal selbst dort war.«
    Ich übersetzte seine Worte in ein Bild, aber es verwandelte sich vor meinen Augen in etwas anderes. Mein Vater hatte einen Weg gesucht, der ihn zurück zu meiner Mutter führte; er

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